© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Offenbar ist der Streit um die Legalisierung der Beschneidung von Jungen in seine letzte Phase getreten. Jetzt geht es den Ablehnern nur noch darum, dem Kind Schmerzen zu ersparen. Das sagt etwas über den Gemütszustand einer Gesellschaft aus, in der der Bedeutungsverlust der Religion eben auch damit zu tun hat, daß sie keine ernstzunehmende – also schmerzhafte, schmerzende – Sache mehr ist. Das Judentum und stärker noch der Islam haben mit der Beschneidung einen Rest jener regelmäßig mit Qualen verbundenen Initiationsfeiern in den rites de passage – den „Übergangsriten“ – bewahrt. Anders das Christentum. Bei den Katholiken unserer Breiten kann sich kaum noch jemand die wenigstens seelischen Nöte der Erstkommunion vorstellen, wie sie Frank McCourt in „Die Asche meiner Mutter“ schildert, bei den Evangelischen ist selbst die Erinnerung an den Brauch ländlicher Gegenden abhanden gekommen, dem Jungen bei der Konfirmation die letzte Ohrfeige zu verpassen.

Das neuerliche Interesse an Rudolf Otto und dessen Theorie des Heiligen erinnert daran, daß Carl Schmitts Lehre vom Politischen eine strukturelle Parallele aufweist: Hier die Behauptung, daß es bei der Analyse der Religion nicht zuerst um den Gott oder dessen Vorform gehe, sondern um eine Empfindung gegenüber dem ganz Anderen, das mit dem Neutrum „das Heilige“ bezeichnet wird, dort die Behauptung, daß es bei der Analyse der Politik nicht zuerst um den Staat oder ein staatsähnliches Gebilde primitiver Art gehe, sondern um eine – feindselige – Empfindung gegenüber dem Fremden, die „das Politische“ konstituiert.

„Es war die Fähigkeit – unbegreiflich für die meisten –, für eine Sache, die Ehre, zu sterben, die es einer kleinen Menschenrasse erlaubte, der großen Menge über Jahrhunderte Respekt einzuflößen.“ (Jean Anouilh)

Die neue Außenpolitik der Türkei zeigt, wie schwer das Gewicht der Geschichte ist. Nicht die revolutionären Ideen des Nationalismus, Panturkismus oder Panturanismus geben die Richtung vor, sondern die osmanische Überlieferung.

„Zu unserem Unglück kannte die Geschichte Rußlands kein Rittertum. Das erklärt unter anderem, warum die Persönlichkeit des Russen nicht so ausgeformt und sein Charakter nicht hinreichend gestählt wurde. Die Macht des primitiven Kollektivismus blieb allzu prägend. Viele unserer Philosophen, Denker und Schriftsteller waren stolz, daß Rußland nie eine wahre Aristokratie besaß, so daß unser Land natürlicherweise demokratisch und nicht aristokratisch sei. Wenn unser Demokratismus des täglichen Lebens, unsere Schlichtheit, der auch unser Adel nahe war, im moralischen Sinn liebenswert sind, so bedeutet das Fehlen der Aristokratie doch auch unsere Schwäche und nicht nur unsere Stärke. Man spürt eine allzu große Abhängigkeit von den elementaren und dunklen Kräften des Volkes, die Unfähigkeit ein überlegenes, leitendes Prinzip gegenüber der Menge zur Geltung zu bringen. Seit Peter dem Großen hat die Bürokratie die Rolle der Aristokratie gespielt und in einigen Bereichen gab es eine Art von aristokratischer Auslese. Nichtsdestotrotz kann man – schon wegen des seelischen Typus – eine Bürokratie nicht wie eine echte Aristokratie betrachten. Bei uns überwogen immer der bürokratische Absolutismus von oben und das Populäre von unten. Eine schöpferische Entwicklung, in der eine qualitative Auslese eine leitende Rolle spielt, wurde unmöglich gemacht, und dafür zahlten wir auf furchtbare Weise.“ (Nikolaj Berdjajew)

Der Gutachter stellt Plagiate fest und kommt zu dem Urteil, es liege „leitende Täuschungsabsicht“ vor, der Doktorvater hält die wissenschaftliche Arbeit immer noch für „sehr beachtlich“. Vielleicht stimmt ja beides: Schließlich wurde die Bundesbildungsministerin im Fach Pädagogik promoviert.

Es mag taktische Erwägungen geben, die es dem französischen Präsidenten nahelegten, die Verantwortung der Republik für die gewaltsame Niederwerfung der Proteste algerischer Arbeiter in Paris am 17. Oktober 1961 anzuerkennen. Aber in erster Linie setzt er doch nur die antipatriotische, Dritte-Welt-fixierte Linie fort, die man von den Sozialisten erwarten darf. Die bürgerlichen Gegner kontern mit dem Hinweis auf die Ermordung der Harkis, der einheimischen Hilfstruppen, nach dem Abzug der Franzosen aus Nordafrika. Aber näher läge es, von jenen Weißen zu sprechen, die am 5. Juli 1962 einem Massaker in Algier und Umgebung zum Opfer fielen. Nicht nur die Zahl der Toten in Paris (zwischen 64 und 200) unterscheidet sich dramatisch von der in Algerien (etwa 1.500 Menschen), auch die Umstände differieren: hier eine Aktion gegen Demonstranten, die sich mit einer Bürgerkriegspartei solidarisierten, da ein Massenmord an Zivilisten nach dem offiziellen Ende der Kampfhandlungen.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 9. November in der JF-Ausgabe 46/12.

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