© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

„Ich habe Atlantis entdeckt!“
Ein New Yorker Zeitungsbericht hat vor einhundert Jahren die Jagd nach dem mythischen Inselreich der Antike wiederbelebt
Wolfgang Kaufmann

Am Morgen des 20. Oktober 1912 überraschte die Boulevardzeitung New York American ihre Leserschaft mit einer besonders knalligen Schlagzeile: „How I Found the Lost Atlantis – the Source of All Civilization“, prangte es fett und zehn Spalten breit auf der Titelseite. Als Verfasser des Artikels firmierte ein gewisser Dr. Paul Schliemann, welcher als Enkel des berühmten Ausgräbers Heinrich Schliemann vorgestellt wurde.

Er gab an, sein Großvater sei 1873 in Troja nicht nur auf den Schatz des Priamos, sondern auch auf eine Bronzevase voller merkwürdiger Artefakte gestoßen, die die Inschrift „Vom König Chronos von Atlantis“ getragen habe. Dies wisse er aus einem geheimen Vermächtnis an ausgewählte Mitglieder der Schliemann-Familie, in dem sich zugleich folgendes Fazit finde: „Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß das untergegangene Atlantis nicht nur ein großes Territorium zwischen Amerika und der Westküste von Afrika und Europa war, sondern die Wiege unserer Zivilisation.“ Weiterhin berichtete Paul Schliemann von sechsjährigen eigenen Forschungen in Ägypten und Lateinamerika, aufgrund derer er die Richtigkeit der Annahmen seines Großvaters hinsichtlich der Lage des versunkenen Kontinents und des von dort ausgehenden Kulturtransfers nach Ost und West voll und ganz bestätigen könne. Deshalb dürfe er nun mit Fug und Recht behaupten: „Ich habe Atlantis entdeckt!“

Allerdings offenbart der Artikel einige auffällige Unsicherheiten, was archäologisch-historisches Wissen betrifft. So äußert der Autor unter anderem, der Text auf der bewußten Vase aus Troja sei in phönizischen Hieroglyphen geschrieben gewesen. Das indes ist ein Ding der Unmöglichkeit, da die Phönizier niemals Hieroglyphen verwendeten. Des weiteren wird von „Tiahuanaca in Central America“ fabuliert. Tatsächlich jedoch liegen die Ruinen von Tiahuanaco in Bolivien, mithin also in Südamerika. Noch unqualifizierter kommt die Behauptung daher, die Pyramiden in Amerika und Ägypten hätten allesamt Außentreppen und trügen einen dicken Zementmantel!

Angesichts solcher und weiterer Entgleisungen (darunter die Erwähnung eines chaldäischen Textes, der einen Tempel im tibetischen Lhasa zieren solle) ist die Frage nach dem wissenschaftlichen Hintergrund des Verfassers wohl mehr als berechtigt. Wer also war der Schliemann-Enkel und Lieferant dieses ebenso bombastischen wie dilettantischen Artikels über die „erstaunlichste wissenschaftliche Entdeckung, die jemals publiziert wurde“?

Heinrich Schliemann hatte fünf Kinder: Seiner ersten Ehe mit der Russin Katharina Lyschina entsprangen Sohn Sergej und die Töchter Natalja und Nadeschda, nach der zweiten Eheschließung mit Sophia Engastromenos folgten ein weiterer Sohn namens Agamemnon und die Tochter Andromache. Daß der protegierte Enkel ein Nachkomme der ersten drei Kinder des Ausgräbers war, insonderheit natürlich Sergejs, ist extrem unwahrscheinlich, weil es nach der Scheidung zu einem vollkommenen Bruch zwischen Schliemann und dem russischen Teil seiner Familie kam.

Agamemnon Schliemann wiederum blieb nachweislich kinderlos, während seine Schwester Andromache zwar drei Söhne hatte, doch hießen diese Leon, Alex und Michael und trugen den Familiennamen ihres Vaters, also Melas – außerdem waren sie 1912 auch noch viel zu jung. Darüber hinaus gab Lilian Melas, die Witwe von Leon Melas, später zu Protokoll, Paul Schliemann sei lediglich eine „personnage imaginaire“ der Familiengeschichte gewesen.

All diese Umstände bewogen den bekannten britischen „Atlantologen“ Egerton Sykes zu der Annahme, der 1878 geborene und in Paris promovierte Agamemnon Schliemann sei in den USA als Dr. Paul Schliemann aufgetreten – immerhin steht und fällt der moderne Atlantismythos mit der Existenz dieser geheimnisvollen Person, welche 1912 praktisch aus dem Nichts auftauchte. Sykes blieb dabei allerdings die Erklärung schuldig, warum sich der echte Schliemann-Sohn freiwillig zum Enkel „herabgestuft“ haben soll. Aber auch hierzu gibt es mittlerweile eine Theorie, welche darauf basiert, daß Agamemnon Schliemann keinesfalls ohne Grund in die USA gegangen war, sondern im Anschluß an einen schweren Autounfall in Paris, bei dem er den Tod des Dichters Narcisse Quellien verschuldet hatte – unter diesen Umständen sei der einmalig-auffällige Vorname eher nachteilig gewesen.

Jedenfalls verschwand der mysteriöse Schliemann-Erbe ebenso abrupt von der Bildfläche, wie er diese betreten hatte: Kurz nach dem Erscheinen des Artikels im New York American und der Ankündigung, es werde bald ein umfangreiches Buch über die Recherchen zu Atlantis folgen, verlor sich die Spur von Paul Schliemann ein für allemal. Das Phantom der Atlantisforschung soll eine Woche nach der Veröffentlichung von „How I Found the Lost Atlantis“ mitsamt seiner Segelyacht auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein – ganz im Gegensatz zu Agamemnon Schliemann übrigens, der später noch zum griechischen Botschafter in den USA avancierte und erst 1954 in Paris verstarb.

Obwohl „Dr. Paul Schliemann“ also aller Wahrscheinlichkeit nach nie existiert hat, sondern eine Erfindung auflagenorientierter Redakteure der Hearst-Presse war, bewegen seine „Enthüllungen“ heute noch die Szene. Das gleiche trifft auf die Zeichnung zu, mit der der Artikel illustriert ist: Sie zeigt die seinerzeit schon von Platon beschriebene kreisförmige Stadt, angesiedelt auf einem riesigen, gebirgigen Kontinent, der von den karibischen Inseln bis kurz vor Irland und damit fast über den gesamten Nordatlantik reichte.

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