© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

Der Flaneur
Supermärkte ohne Herbst
Paul Leonhard

Dresdner Christstollen, Pulsnitzer Pfefferkuchen, Dominosteine, mit Schokolade gefüllte Adventskalender, Spekulatius, Marzipanstangen und andere Leckereien – quadratmeterweise liegen sie gestapelt und animieren zum Kauf. Die gewünschte Reaktion tritt ein. Ich bekomme Appetit. Möchte mir etwas gönnen. Ein kleiner Stollen vielleicht? Oder wenigstens ein Schokohohlkörper?

Oder sollte ich schon verschiedene Utensilien für das Fest der Familie einkaufen? Der Discounter bietet unter dem Motto „Jetzt wird es stimmungsvoll“ Ständer, Kerzen und Decken für den Christbaum an, auch Weihnachtslichterketten sowie LED-Balkonleuchtstäbe in Form einer Schneeflocke oder eines weißen Tannenbaums. Auch droht mir das Geschäft, daß es Zeit sei für Basteleien. Es gibt Weihnachtskarten, -servietten, -fensterbilder, -geschenkanhänger ... Und es gibt den freundlichen Hinweis, daß all diese Dinge trotz sorgfältiger Planung im Einzelfall aufgrund hoher Nachfrage bereits am ersten Tag ausverkauft sein könnten.

Nachdenklich halte ich schließlich eine Tüte mit knusprigen Weihnachtssternen in der Hand, schiele gleichzeitig auf Lebkuchenherzen. Im Mund läuft das Wasser zusammen. Hm, lecker. Dann reiße ich mich zusammen. Bis Weihnachten sind es noch lange Wochen. Draußen scheint die Sonne, die Blätter der Bäume leuchten gelb, rot und auch noch grün. 20 Grad sollen es heute werden. Ich flüchte. Raus, in den sonnigen Tag.

Der Herbst ist eine schöne Jahreszeit. Leider scheint er aber in der bunten Welt der Lebensmittel-Discounter nicht mehr vorzukommen. Ob das an der mangelnden Phantasie liegt? Draußen liegen unbeachtet Kastanien. Als Kind habe ich diese gesammelt, um aus ihnen und Eicheln lustige Figuren zu basteln.

Auf dem Marktplatz verteilen ein paar alte Damen kostenlose Zeitungen. Da fällt es mir ein. Der Handel hat keine Zeit, auf Weihnachten zu warten. Er muß jetzt verkaufen, die Lager leeren. Am 21. Dezember ist ja Weltuntergang.

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