© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/12 02. November 2012

Der Haß gegen Deutschland
Undank ist unser Lohn
Thorsten Hinz

Der Finanzspekulant George Soros entwarf im Juni 2012 folgendes Szenario: Falls Deutschland sich weigere, für die Schulden der Südländer einzustehen und aus dem Euro-System austrete, so würde „das Ergebnis (...) ein Europa sein, in dem Deutschland als Imperialmacht betrachtet wird – als eine Macht, die vom Rest Europas nicht mehr bewundert und imitiert wird. Statt dessen wird Deutschland gehaßt werden, andere Länder werden Widerstand leisten, weil sie die Deutschen als Unterdrücker wahrnehmen.“ Mit seiner Prognose dürfte Soros richtig liegen. Bereits jetzt wird Deutschland in der EU als Unterdrücker mit imperialen Gelüsten kritisiert, weil es sich etwas gegen die bedingungslose Übernahme fremder Schulden sträubt.

Die Situation ist verfahren: Die Deutschen, weil sie den Hegemonialvorwurf mehr fürchten als die finanzielle und politische Selbstauslöschung, haben sich von den Franzosen in ein dysfunktionales Währungssystem hineinzwingen lassen. Entgegen den Erwartungen hat seine halbhegemoniale Stellung sich sogar noch verstärkt, während die Lateineuropäer faktisch pleite sind. Sie machen nun Deutschland für die Dysfunktionalität verantwortlich und drängen darauf, daß es sich in der Konsequenz ebenfalls zugrunde richtet. Der Chefredakteur der führenden französischen Wochenzeitschrift Le Nouvel Observateur, Laurent Joffrin, faßte die Stimmung in der Titelzeile zusammen: „Deutschlands Politik ruiniert uns alle.“ Die Italiener wettern gegen das „Vierte Reich“, Griechen und Spanier weisen mit NS-Symbolen auf die Deutschen, die schuld an den Sparmaßnahmen ihrer Regierungen seien.

Seit fast 100 Jahren sind Schuldzuschreibungen ein effektives Mittel, um Forderungen gegen Deutschland durchzusetzen. Im Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrags wurde die Praxis erstmals völkerrechtlich. Diesen Hintergrund muß man kennen, um Bedeutung und Dimension der aktuellen Vorgänge zu erfassen.

Weder hiesige Politiker noch Medien setzen den antideutschen Ausfällen etwas entgegen, im Gegenteil. „Deutschland ist der Kern der Krise“, donnerte Nikolaus Piper in der Süddeutschen Zeitung. Die Kanzlerin wird von der Presse und der Opposition nicht etwa deswegen kritisiert, weil sie noch jede ihrer „roten Linien“ überschritten hat, sondern weil sie mit deutschem Steuergeld angeblich zu sparsam umgeht.

Die Forderung von George Soros, Deutschland solle – analog zu den USA nach 1945 – in Europa als „freundlicher Hegemon“ auftreten und dafür besondere Belastungen schultern, läuft also ins Leere. Dagegen sprechen neben den unterschiedlichen Größenverhältnissen historische, politische, kulturelle und psychologische Argumente. Vor allem waren die USA eine selbstbewußte, von ihrer Mission überzeugte Nation, die, wenn es ernst wurde, auf Gefolgschafts­treue pochen konnte. Kritik ließ sie gelassen an sich abperlen. Umgekehrt kalkulierte kein Kritiker ernsthaft damit, den Koloß in eine Identitäts- und Glaubenskrise stürzen zu können.

Deutschland hingegen ist moralisch gebrochen und steht jeder moralischen Erpressung wehrlos gegenüber. Deshalb konnte es die wirtschaftliche Stärke, die es im Schatten des Kalten Krieges generiert hatte, nach 1990 nicht in politische Gestaltungskraft umsetzen. Die erste entscheidende Weichenstellung nach der Wiedervereinigung – die Einführung des Euro – offenbarte seine Unfähigkeit, selbständig, maßvoll und zielführend zu handeln. Gedankt wird ihm seine Willfährigkeit nicht. Im Gegenteil, sie fordert das Ressentiment und seine Instrumentalisierung geradezu heraus.

Nicht immer waren die Deutschen unbeliebt. Das Bild und Selbstbild eines idealistischen und romantischen Volkes wurde bis weit ins 19. Jahrhundert hinein mit Sympathie aufgenommen, zumal sich kein Machtanspruch damit verband. Das änderte sich 1871 mit der Gründung des Deutschen Reiches, das zu enormen wirtschaftlichen und militärischen Leistungen fähig war. Unsicher und ungeübt im Gebrauch seiner Macht, wirkte das Reich nach Bismarcks Demission auftrumpfend und anmaßend, was seinen Gegnern und Neidern Anlaß bot, Haß gegen Deutschland zu schüren.

Mit dem Ersten Weltkrieg brach er offen aus. Die Deutschen wurden zu Barbaren gestempelt, die angetreten waren, die europäische Zivilisation auszulöschen. Max Scheler verfaßte damals ein Buch über „Die Ursachen des Deutschenhasses“. Die Gründe sah er primär bei den Deutschen selbst: In ihrem übertriebenen Arbeitsfleiß, im Fehlen eines „nationalen Menschen- und Herren­ideals“, das dem britischen Gentleman vergleichbar war und auf andere Völker einen positiven Eindruck machte.

Der Psychiater Erwin Stransky nahm in der 1919 publizierten Studie „Der Deutschenhaß“ die Argumentation Schelers auf, thematisierte aber auch den pathologischen Zug in der gegnerischen Propaganda. Den Grund dafür, daß Greuelmärchen wie die über abgehackte belgische Kinderhände antideutsche Empörung auslösten, andererseits die britische Hungerblockade gegen Deutschland auf keine Kritik stieß, sah Stransky in der professionellen Unfähigkeit der deutschen Stellen sowie in dem schlechten Bild, das die Deutschen schon vor Kriegsausbruch abgegeben hatten. Wie kam es dann aber, daß Briten und Franzosen als selbsternannten Verteidigern der Freiheit ihr Bündnis mit dem verrufenen Zaren-Regime nicht im geringsten schadete?

Die Erklärungslücke schloß der Sozialpsychologe Kurt Baschwitz in dem Buch „Der Massenwahn. Ursache und Heilung des Deutschenhasses“ (1932). Baschwitz verband die völker- und massenpsychologischen Perspektiven von Scheler und Stransky mit der real- und machtpolitischen Lageanalyse. Die Ursache für den Deutschenhaß erblickte er nicht primär in den nationalen Eigenarten und im propagandistischen Ungeschick, sondern in den Kräfteverhältnissen und der Niederlage selbst. Die Schlagkraft der antideutschen Propaganda hing unmittelbar mit der materiellen Übermacht des britischen Empires, Frankreichs, Rußlands und der USA zusammen. Aus ihrer überlegenen Position heraus hatten die Entente-Mächte der psychologischen Kriegsführung keinerlei Zügel anlegen müssen. Im eingekreisten Reich hätte eine gleichwertige Greuelpropaganda dagegen eine lähmende Furcht ausgelöst. Die bereits vor Kriegsbeginn gegen Deutschland gerichtete Weltmeinung hielt genau Schritt mit den Erfolgen der britischen und französischen Staatskunst, die Deutschland zunehmend in die Isolation trieb: „Das war das Einkreisungsgeräusch.“

Die heftige deutsche Gegenwehr stimulierte die Propaganda zusätzlich. Die Entente sah sich gezwungen, gegen ein europäisches Nachbarvolk farbige Hilfsvölker heranzuführen, was ihren kolonialen Herrschaftsanspruch und „Rassestolz“ tief verletzte. Zur Begründung mußte desto greller die Verworfenheit der Deutschen herausgestellt werden. In Japan, das selber zu den „farbigen“ Ländern zählte, entfiel dieser psychologische Zwang, weshalb der Deutschenhaß hier am geringsten ausgeprägt war und mit dem Ende des Krieges gänzlich erlosch.

Dramatisch war die „seelische Zwangslage“ der neutralen Staaten in Europa. Unter dem Eindruck der „anscheinend unwiderstehlichen Übermacht“ der Alliierten stehend und von diesen gezwungen, sich am Boykott gegen Deutschland zu beteiligen, machten sie sich die antideutsche Propaganda weitgehend zu eigen, während sie die britische Hungerblockade ignorierten oder verteidigten. Das ging so weit, daß Pflegefamilien in Holland oder der Schweiz, die in den Ferien ausgehungerte deutsche Kinder bei sich aufnahmen, diesen bei ihrer Rückreise kein Brot mit auf den Weg geben durften und ihnen das geschenkte Schuhwerk – in Deutschland eine Mangelware – an der Grenze wieder abnehmen mußten.

Es herrschte der Massenwahn. In ihm sucht der Mensch den Ausgleich zwischen seinem Gefühl der Mitverantwortung an einem Tatbestand, der sein Gewissen belastet, den zu ändern jedoch außerhalb seiner Möglichkeiten liegt, „und der quälenden Redlichkeitsforderung des eigenen Gewissens“. Der hauptsächliche Grund für den flächendeckenden Erfolg der alliierten Kriegspropaganda lag nicht im Geschick und der Überzeugungskraft der Propagandisten, sondern in der Bereitschaft der Massen, ihren Lügen zu glauben. Ihr „Glaubenwollen“ wirkte lange nach. Noch nach Kriegsende frohlockten britische Ärzte, daß die Hungerblockade den nachwachsenden Generationen in Deutschland dauerhafte Schädigungen zugefügt hatte.

Baschwitz erkannte in der „Massenwahnerscheinung“ des Deutschenhasses „nicht nur eine Heimsuchung für Deutschland, sondern eine Menschheitsplage“. An ihrem schlechten Gewissen gegen Deutschland drohe „die Welt – die Bildungswelt der weißen Rasse – zugrunde zu gehen“. Der Haß flaue nicht von selber ab, vielmehr müßte kluges Handeln neue Völkerbeziehungen herbeiführen und das internationale Recht wiederherstellen. Eine Aufgabe, die insbesondere der deutschen Staatsführung zufiel.

Wer bald darauf kam, war Adolf Hitler (was den Juden Baschwitz einige Jahre später um Haaresbreite das Leben gekostet hätte). Von Historikern ist häufig vermerkt worden, daß er die Bestimmungen des Versailler Vertrages deshalb so leicht beseitigen konnte, weil die Siegermächte um deren Unrecht wußten und schließlich nicht mehr über die moralische und die Willenskraft verfügten, um auf ihrer Einhaltung zu bestehen. Völlig erfolglos war die Außenpolitik der Weimarer Republik demnach nicht gewesen. Parallel dazu ging Hitler jedoch daran, die Haßbilder zu bestätigen, welche über die Deutschen in die Welt gesetzt worden waren. Aus der Weltkriegserfahrung hatte er den Schluß gezogen, daß es ausschließlich auf den militärischen Sieg ankomme und der propagandistische Erfolg sich danach von allein einstelle. Auch Friedrich der Große war im Siebenjährigen Krieg europaweit verhaßt gewesen bis zu dem Moment, da er sich behauptete und in gewisser Weise als Sieger dastand. Da schlug der Haß in Verehrung um. Doch Hitler war kein Friedrich, und vor allem war Friedrich kein Hitler gewesen.

Die Schlußbilanz der nationalsozialistischen Herrschaft war so verheerend, daß die negativen Kollektivzuschreibungen nun als geronnene Erfahrungen erschienen. Von der Aufgabe, die Rechtlichkeit – einschließlich der geistig-moralischen – wiederherzustellen, entband und entbindet die trostlose Lage dennoch nicht.

Zur Wiederherstellung gehören materielle Wiedergutmachungs- und Reparationsleistungen. Eine reinigende Wirkung können sie aber nur entfalten, wenn gleichzeitig – mit der gebotenen Vorsicht – auf deren Einmaligkeit sowie auf die präzedenzlosen Territorial- und Eigentumsverluste hingewiesen wird, die Deutschland nach 1918 und 1945 erlitten hat. Um die ahistorische Dämonisierung der Deutschen aufzuheben, muß weiterhin auf die Historisierung des Dritten Reiches hingewirkt werden.

Während Deutschland in finanzieller Hinsicht außerordentlich viel geleistet hat, ist auf dem Gebiet der geistig-moralischen Rehabilitierung wenig geschehen. Die Deutschen haben sich dem antideutschen Ressentiment unterworfen und es zum Teil ihres Selbstverständnisses gemacht. Das ermuntert die EU-Partner geradezu, es als politische Waffe zu instrumentalisieren. In den akuten Ausbrüchen dort machen sich Wut und Verzweiflung über eigenes Unvermögen und eigene Fehleinschätzungen Luft, die auf Deutschland projiziert werden. Einerseits sind alle Partnerländer von Deutschland abhängig, andererseits ist Deutschland zu schwach (und zu dumm), um deren Begehrlichkeiten abzuwehren, so daß es sich für sie politisch und finanziell lohnt, das Ressentiment zu kultivieren. Das Ergebnis ist eine allgemeine Paralyse.

Damit weitet sich die nationale zur europäischen Tragödie, weil Europa – will es sich als Machtblock konstituieren und global behaupten – ohne einen freundlichen Hegemon nicht funktioniert und niemand außer Deutschland das nötige Potential dafür besitzt.

 

Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, Germanist, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Autor. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Preisgabe der D-Mark durch Helmut Kohl („Der Sprung ins Dunkle“, JF 37/12).

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