© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/12 09. November 2012

Kampf um die Nische
Berlin: Internationale Konferenz macht sich für das schulfreie Lernen stark
Thorsten Brückner

Als die letzten Tränen getrocknet waren, machte sich auf Dirk Wunderlichs Gesicht wieder ein optimistisches Lächeln breit. Zuvor hatte der Bericht einer von den Behörden auseinandergerissenen Familie bei den Zuhörern auf der Ersten Globalen Konferenz für Heimunterricht am vergangenen Wochenende in Berlin für Fassungslosigkeit gesorgt. Auch Dirk Wunderlich muß jeden Moment damit rechnen, daß das Jugendamt bei ihm an der Haustür klingelt und ihm seine vier Kinder wegnimmt.

Erst vor wenigen Wochen haben er und seine Frau das Sorgerecht für ihre Kleinen verloren. Nicht etwa, weil sie ihre Kinder mißhandelt oder vernachlässigt hätten. Ihr einziges Vergehen, das sie dem Verfolgungseifer der Behörden ausgesetzt hat: Sie haben sich entschieden, ihre Kinder nicht in die Schule zu schicken, sondern zu Hause zu unterrichten, weil sie negative Auswirkungen auf ihre Kinder befürchten. Die Beweggründe von Eltern, sich für den Heimunterricht zu entscheiden, sind dabei ganz unterschiedlich. Manche lehnen es aus Glaubensgründen ab, ihre Kinder in eine mehr und mehr von Sexualerziehung und einer atheistischen Grundausrichtung bestimmte öffentliche Schule zu schicken. Andere verweisen auf die zunehmende Gewalt und starre Lehrpläne, die die Entwicklung des Kindes behinderten. Der Familienvater aus dem Odenwald zeigte sich am Ende der Heimunterricht-Konferenz, die Besucher aus aller Welt anzog, zuversichtlich: „Der Kampf für die Freiheit wird weitergehen. Das Grundgesetz garantiert das elterliche Erziehungsrecht“, sagte er der JF.

Auf der von internationalen und besonders amerikanischen Heimunterrichtsorganisationen finanzierten Tagung betonte der FDP-Bundestagsabgeordnete Patrick Meinhardt seine Unterstützung der Heimunterricht-Bewegung, warnte jedoch vor zu großen Erwartungen. Im starren und festgefahrenen deutschen Bildungssystem müsse man Nischen ausnutzen. Der demographische Wandel in bevölkerungsarmen Gegenden Mitteldeutschlands sei hier als Chance zu sehen. „Wir müssen weg von der Vorstellung, daß Bildung nur dort stattfindet, wo ein Schulgebäude ist. Bildung ist in jedem Wohnhaus.“ Als Beispiel nannte er Kanada, das in sämtlichen Pisa-Ranglisten die vordersten Plätze einnimmt und Heimunterricht allein schon aufgrund der geographischen Gegebenheiten als Alternative zuläßt.

Deutlicher wurde da schon der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) in seiner Grußbotschaft. Der Schulbetrieb habe imperialistische Züge angenommen. Homeschooling sei daher ein heilsamer Stachel gegen die Herrschsucht des Schulregimes.

Der Erziehungswissenschaftler Charles Glenn aus Boston versuchte eine Antwort auf die Frage zu geben, wie die Idee einer rigiden staatlichen Kontrolle über die Kinder in Westeuropa salonfähig werden konnte. Deutschland habe dabei eine traurige Vorreiterrolle eingenommen, bis hin zu dem von den Nationalsozialisten 1941 eingeführten strengsten Schulzwang-Gesetz in der deutschen Geschichte. Mit diesem hätten sie die Maxime Dantons aus der Zeit der Französischen Revolution verwirklicht: „Die Kinder gehören dem Staat, nicht den Eltern.“

Gerade die Willkürherrschaft der Nationalsozialisten sollte der deutschen Regierung heute als Mahnung dienen, forderte auch der Präsident der amerikanischen Homeschool Defense League, Michael Donnelly. Vor zwei Jahren machte der Rechtsanwalt Schlagzeilen mit der Verteidigung der deutschen Familie Romeike, die nach Verfolgung durch die Behörden in Baden-Württemberg politisches Asyl in den Vereinigten Staaten gewährt bekam (JF 7/10). Es werde heute in Deutschland aller möglichen von den Nationalsozialisten verfolgten Gruppen gedacht. Vor allem sollte heute jedoch als Mahnung dienen, was passieren kann, wenn eine Regierung außer Kontrolle gerät und in die innersten Belange der Familie eingreife. „Reißt die Mauer nieder, die Kinder von ihren Eltern trennt“, forderte Donnelly.

Heimunterricht wird in der deutschen Vorstellung schnell mit den Vereinigten Staaten in Verbindung gebracht. Die Rechtslage in Europa ist höchst unterschiedlich. Während in Irland die Verfassung das Elternrecht auf Heimunterricht garantiert, toleriert Österreich ihn unter strengen Auflagen. In Frankreich kommt Heimunterricht-Eltern entgegen, daß in Ermangelung eines staatlichen Melderegisters der Verfolgungsdruck deutlich niedriger ist. Neben Deutschland werden Heimunterricht-Familien vor allem in Schweden und Norwegen mit äußerster Härte verfolgt, Familien getrennt und Eltern inhaftiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Konrad-Urteil von 2006 die Praxis der deutschen Bundesländer ausdrücklich bestätigt.

Beeindruckt von der Konferenz zeigte sich Jürgen Dudek, der zwischenzeitlich vom Landgericht Kassel wegen Heimunterrichts seiner Kinder zu drei Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt worden war. Dudek ist Autor des Internetblogs „Der Blaue Brief“, der die Thematik Heimunterricht von verschiedenen Blickwinkeln aus beleuchtet und aktuelle Entwicklungen aufgreift. „Diese Konferenz ist eine Mischung verschiedener Strömungen. Säkulare Freilerner kommen zusammen mit Eltern, die religiöse Gründe geltend machen und beide kämpfen gemeinsam für die Freiheit und das grundgesetzlich verbriefte Elternrecht auf Erziehung“, sagte Dudek der JF. Er wünscht sich besonders, daß Heimunterricht-Eltern die Kraft zum Verbleib in Deutschland finden: „Wenn jeder das Land verläßt, gibt es keine Gesichter mehr und die Medien ignorieren das Problem.“ Der mögliche Verlust der geliebten hessischen Heimat sei für ihn ein weiterer Aspekt gewesen, zu bleiben.

Trotz ihrer ungewissen Zukunft und mit der Möglichkeit eines Zugriffs der Behörden im Nacken verläßt auch Familie Wunderlich zuversichtlich die Tagung. „Es war großartig, so viele engagierte und verständnisvolle Menschen kennengelernt zu haben“, faßte Dirk Wunderlich seine Eindrücke zusammen, während seine Kinder noch ausgelassen in der Kinderbetreuung spielen. Allein die traurigen Augen seiner Frau zeugen in diesem Moment vom Leid eines Ehepaars, das angetrieben von der Liebe für seine Kinder und dem Wunsch, sie behütet aufwachsen zu sehen, auch weiterhin fest entschlossen ist, sich den Behörden zu widersetzen.

www.derblauebrief.net

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