© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/12 09. November 2012

Demokratie und Konsumgesellschaft
Wir satten Genießer
Heino Bosselmann

Zu den problematischen Mißverständnissen in der Selbstwahrnehmung der Demokratie gehört die Grundannahme, sie lebe und funktioniere aus der Gemeinschaft mündiger Bürger heraus. Mündigkeit geht etymologisch auf das althochdeutsche „Munt“ zurück, das für Herrschaft, Fürsorge, äußere Haftung und Schutz steht und so dem germanischen Hausherrn gegenüber Familie und Gesinde zukam. Philosophisch jedoch ist der Begriff längst von der Semantik emanzipatorischen Denkens bestimmt. Selbst wer nie Kant gelesen hat, kennt dessen verlockende Definition: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Man hört das Kompliment gern. Der Mensch sei also endlich zum bewußten Sein befreit, mehr noch, es liege in jedem Individuum die Befähigung, diesen Schritt immer wieder autonom zu vollziehen. Alles ist möglich!

Heute dürfte die Fähigkeit, Urteile zu bilden, vor allem darin liegen, gängige Zuschreibungen und performative Sprechakte von Marketing bis Politik – beides seit den Neunzigern dicht beieinander – mit dem nötigen Abstand hinterfragen und prüfen zu können, sich im Akt dessen gegenüber einer anderen Position in seiner eigenen zu verorten und von dieser aus bewußt und aktiv zu handeln. Ein hoher Anspruch – gleichermaßen an entwickelte Intellektualität wie an bürgerliche Courage.

„Mündig ist, wer für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet (…) Das erweist sich aber in der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen nun mal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt. Solcher Widerstand als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen ‘krino’, Entscheiden, herrührt.“ So erklärt es Adorno. Aufklärung folglich als Fähigkeit zum nachdenklichen Widerstehen!

Aber wer für sich selbst spricht, ist nun mal nicht jeder, ebensowenig wie jeder aus sich selbst denkt. Die hier aufgerufene Urteilskraft, das wußten Kant wie Adorno, mag zwar jedem menschlichen Wesen potentiell zukommen, sie entwickelt sich allerdings nicht von selbst gleichermaßen und ist nicht selbstlaufend wie ein Betriebssystem zu starten. Die Aufklärung wollte daher zur Reife erziehen, aber ein solcher Bildungsanspruch ist ebenso verloren wie das alte Reifezeugnis. Man wird dazu keine Untersuchungen anstellen können, aber man darf annehmen, daß den hohen aufklärerischen Ansprüchen weder die Mehrheit einer Gesellschaft genügen will noch überhaupt genügen kann. Nebenbei: Wer heute intellektuell widerständig im Sinne Adornos auftritt, gilt den Angepaßten meist als Populist. Und ein Populist ist nach aktueller Sprachregelung grundsätzlich gleich Rechtspopulist. Was für eine Verkehrung von Grundbegriffen einer ehemals eher links inspirierten Philosophie.

Wenn es aber an qualifizierter Mündigkeit nicht nur fehlte, sondern konstant fehlt, wie ist es dann um die Demokratie als dem schlechthin politischen Ausdruck der Aufklärung bestellt? – Wiederum einfach pragmatisch. Die Demokratie funktioniert – unter bestimmten Umständen und Gewährleistungen! Brechen die weg, droht revolutionäre Gefahr. Die Geschichts-, Staats- und politische Philosophie helfen hier weniger weiter als die praktische Ethik.

Indem Demokratien in Entscheidungsprozessen der Mehrheiten bedürfen, handeln sie grundsätzlich utilitaristisch, orientieren sich also daran, was der Mehrheit nützt. Mehrheitsentscheidungen gelten nach dem Ende des Gottesgnadentums gemeinhin als kluge, als gute, mindestens als gerechte Entscheidungen. Moderne Demokratien folgen möglichst dem „hedonistischen Kalkül“ Jeremy Benthams, des Begründers des klassischen Utilitarismus, und schränken dies durch Grundgesetzlichkeiten im Sinne eines qualitativer argumentierenden Regelutilitarismus und nach prinzipiellen, vermeintlich universell geltenden Werteskalen ein, damit unabdingliche Grundlagen von Recht und Moral gewahrt bleiben. Folgerichtig schreiben sich die angloamerikanischen Ansätze des Utilitarismus bis zu John Rawls’ egalitärem Liberalismus fort, erweitert um die Kantsche Pflichtethik des kategorischen Imperativs, die unter anderem den schwierigen Begriff der Würde und der „unveräußerlichen Menschenrechte“ betrifft.

Die Deutungsbehörden vermitteln, Demokratie entspringe als Ergebnis einer geschichtlichen oder biographischen Reifung quasi evolutionär-weltgeistlich einer „Idee des Demokratischen“ wie der platonischen Idee des Guten. Hier erweist sich die Verbundenheit der Aufklärung mit dem deutschen Idealismus von Kant bis Hegel als Problem. Diese Namen aufzurufen – beide alles andere als „lupenreine“ Demokraten – gilt als ausreichender Autoritätsbeweis für die Gutheißung des Demokratischen in gegenwärtiger Gestalt. In ähnlicher Weise muß übrigens Kants Altersschrift „Zum ewigen Frieden“ als Legitimation für die EU und eine „Weltregierung“ herhalten.

Die immer wieder einmal beschworenen Gefahren für die Demokratie gehen weniger von nachdenklichen Opponenten aus, die für eine kritische Überprüfung sorgen, sondern viel eher von bequemer Pauschalität, mit der sie zur besten aller möglichen Welten erhoben wird, und zwar meistens voraussetzungslos, per se. Verbunden mit der autoritären Abkanzelei: Wer nicht dafür ist, habe mindestens nichts aus der Geschichte gelernt. Da aus der Geschichte aber alles Mögliche zu lernen wäre, bleibt zu fragen, weshalb die Demokratie beeindruckende Erfolge vorweist, die meist an der Dauer ihres Funktionierens gemessen werden. Seit Goethes „Amerika, du hast es besser“ und Alexis de Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“ halten vor allem die USA als das schlagende Beispiel dafür her, ungeachtet ihrer Verbrechen nach innen und außen. Dergleichen Probleme, heißt es, würden schon verläßlich durch Gewaltenteilung und politischen Wechsel geregelt. Früher oder später. Das sei ja gerade der Beweis für den Vorzug der Demokratie! So ruft die Bundeszentrale für politische Bildung auf ihrer Netzseite Churchills Aphorismus auf, die Demokratie sei die schlechteste aller Regierungsformen, abgesehen von all den anderen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.

Ließe sich eine treffendere Bezeichnung für demokratische Gesellschaften finden, eine, die den pragmatischen Hintergrund genauer aufzeigte? Vorgeschlagen sei der Begriff der oralen Gesellschaft. Er vermag ein Gemeinwesen zu bezeichnen, dem es gelingt, die überwiegende Mehrheit seiner Mitglieder versorgend zufriedenzustellen, und zwar deren physisch-physiologische wie ideelle Bedürfnisse. So suchten die mit Wende und Grenzöffnung in den Westen drängenden und den Westen herbeirufenden DDR-Bürger in elitären Minderheiten – wie Joachim Gauck und Gefährten – wohl die „Freiheit“ im Sinne verbriefter Grundrechte, in der Mehrheit aber – entgegen gängiger Legendenbildung – die D-Mark, die Supermärkte, die Vielfalt des Medienkonsums. Boat People ohne Boot, risikofrei per Beitrittsklausel auf dem Weg aus der Ideologie ins verheißene Glück. Abseits aller Heroisierungen besteht der demokratische Konsens in der Sicherstellung von Lebens- und Luxusbedürfnissen – um den Preis problematischen Ressourcenverschleißes: die Ablösung der Diktatur des ideologisch aufgerüsteten Mangels durch den Pluralismus des totalen Konsums.

Das ist nichts Schlechtes, daran gibt es nichts zu moralisieren, obwohl damit eine Vielzahl globalgefährdender Probleme verbunden sind, unter anderen, aber nicht nur, ökologische. Phänomenal ferner, daß bürgerliche Demokratien über den Lobbyismus der Starken und erleichtert durch die Lethargie der Schwachen in sich Regularien entwickeln, die vorzugsweise den Eliten und Besitzenden nützen, obwohl nach Fall des Zensuswahlrechts tatsächlich allgemeine Partizipation sichergestellt wäre. Die Oligarchen erwiesen sich noch immer als die Vollprofis der Oralität. Sie haben deren Prinzip verinnerlicht: In Größenordnung mehr aufnehmen als abgeben. Ihre Rückfrage: What’s the problem? Alles rechtens. – Wie wahr! So manifestiert sich die alte ethische Differenz zwischen Legalität und Moralität. Und der Satz „Alle Macht geht vom Volke aus“ trifft mit seinem klassischen Dativ eine zwar schön anmutende, aber doch einwandfrei demagogische Aussage.

„Die Freiheit des egoistischen Menschen und die Anerkennung dieser Freiheit ist aber vielmehr die Anerkennung der zügellosen Bewegung der geistigen und materiellen Elemente, welche seinen Lebensinhalt bilden“, meinte Marx. In der Zusicherung dieser Freiheit erkennt er das Anliegen der Menschenrechte, die Verfügungsgewalt des Egoisten zu garantieren. Eine jüngst vom „Jena-Center für die Geschichte des 20. Jahrhunderts“ und vom „Imre-Kertész-Kolleg“ ausgerichtete Tagung wies nach, daß die auf die Unabhängigkeitserklärung der USA und die Französische Revolution zurückgreifende „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Uno von 1948 im Kalten Krieg und bis heute eher verbalpolitisch instrumentalisiert wurde, als daß ihre Geltung je im Sinne von Geist und Buchstaben durchsetzbar wäre.

Solange demokratische Gesellschaften durch den liberalisierten Markt regulativ in der Lage sind, Bedürfnisse immer neu zu wecken und zu bedienen, existieren sie weiter, wenn es gelingt, die „Verlierer“ und „Abgehängten“ eines sozial selektiven Prozesses ausreichend zu alimentieren. Selbst dem Ärmsten fällt ins Auge, was er kaufen könnte, wenn er die dazu nötigen Erwerbsmittel hätte. Man tanzt weiterhin motiviert um das Goldene Kalb, nur eben weiter hinten, auf den billigen Plätzen, von wo aus kaum noch etwas zu sehen ist. Aber die anderen melden von vorn durch, der Fetisch wäre schon noch da, alles ginge glücklicherweise weiter.

Wenn es gelingt, Supermarktregale und Autohäuser zu füllen, ja zu überfüllen, dann muß es ja wohl funktionieren. Wenn eine Unzahl an Fernsehprogrammen jeden Geschmack, selbst den abseitigsten und abartigsten, zu unterhalten vermag, dann hat jedes individuelle Bewußtsein noch etwas abzubilden und zu verarbeiten.

Über allem erhebt sich ein Überbau, der mit Diskriminierungsverboten, nominellen Gleichstellungen und allerlei Trost- und Hoffnungsbegriffen genau die Emanzipation von allem und jedem suggeriert, die es sozial nicht gibt und wohl nicht geben kann beziehungsweise sollte. Die orale Gesellschaft ist eine der Aufnahme, der Verdauung, der Rezeption, mithin der Genuß- und Ruhebedürfnisse. Ihr Schlüsselwort ruft von jedem Wahlplakat: Wohlstand! Pursuit of happiness! Das ist eine Menge, macht es aber alternativen Sinngebungen schwer. Begonnen mit der einfachen Selbstreflexion und damit der Idee vom eigenen Selbst und vom eigenen Standort. Der Gesellschaft der versorgt Übersättigten ist Bewegung physisch wie intellektuell ein Graus. Es soll bitte zugereicht und serviert werden.

Man kann die latent passive Oralität der Demokratie gutheißen, man muß es vielleicht gar, weil die Alternativen eventuell geschlossene Gesellschaften wären; aber man sollte sie darum nicht teleologisch als höchsten Reifegrad alles Menschlichen und Geschichtlichen verklären.

 

Heino Bosselmann, Jahrgang 1964, war als Lehrer für die Fächer Deutsch, Geschichte und Philosophie an einem Internatsgymnasium tätig. Seit 2010 freiberuflich. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über die digitale Revolution („Anna log digital“, JF 17/11).

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