© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/12 09. November 2012

Aufmarsch auf Schienen
Der Militärhistoriker Horst Rohde hat eine umfassende Geschichte des kriegswichtigen Eisenbahnwesens im Ersten Weltkrieg herausgegeben
Guntram Schulze-Wegener

Die im 19. Jahrhundert entwickelte und erstmals in den Kriegen 1866 und 1870/71 zum Transport von Truppen eingesetzte Eisenbahn wurde nach der Reichsgründung zur weiteren Nutzung systematisch ausgebaut, so daß bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges ein eigens für militärische Belange verfügbares, immer dichter vernetztes Eisenbahnwesen entstand.

In den Operationsplanungen der Generalstäbe spielte das neue Beförderungsmittel, das im übrigen der stahl produzierenden und -verarbeitenden Schwerindustrie zusätzlichen Auftrieb verschaffte, fortan eine tragende Rolle, da man den operativen Wert einer verzugslosen Verbringung größerer militärischer Verbände, von Gerät, Material, Munition, Verpflegung und Nachschub in das Aufmarschgebiet erkannte. Spezialtruppen sorgten für Bau, Wartung und Sicherung, mit sowohl zivilem als auch militärischem Personal besetzte Kommandanturen (und Bahnhöfe) waren für den reibungslosen Ablauf und nicht zuletzt auch für Aufstellung, ständige Überprüfung und Einhaltung von Fahrplänen zuständig, ohne die jede Bewegung auf der Schiene im Chaos enden mußte. Das „Prinzip Feldeisenbahn“ wurde zu einer festen Größe im Gefüge des sogenannten Schlieffenplans, der sich nur unter der Voraussetzung reibungsloser Eisenbahntransporte hätte entfalten können. So sollte nach erfolgreichem Niederringen der französischen Hauptmacht die Masse des Heeres per Bahn an die Ostfront transportiert wurden und dort gegen die Russen eingesetzt werden.

Im Jahr 1914 verfügte das Deutsche Reich über ein engmaschiges Eisenbahnnetz von über 60.000 Kilometern (zum Vergleich: Frankreich 40.000 Kilometer, England 38.000 Kilometer, Österreich-Ungarn 45.000 Kilometer und das riesige Rußland 75.000 Kilometer) und konnte – die strategischen Vorteile der inneren Linie nutzend – in der Mobilisierungs- und Aufmarschphase seine Truppen innerhalb weniger Wochen zeitsparend und höchst effizient an die Westfront werfen, wo sie ohne kräftezehrende Märsche ebenso frisch eintrafen, wie sie die Heimatbahnhöfe verlassen hatten.

Diese Mobilität war in der technisierten Welt des modernen Krieges ein nicht zu unterschätzender Vorteil der Mittelmächte (insbesondere des quantitativ notorisch unterlegenen Deutschlands) gegenüber der Entente, ging aber aufgrund rasant schwindender Ressourcen an Menschen und Material bald wieder verloren. Der Erste Weltkrieg war bekanntlich ein Schlagabtausch industriell hochgerüsteter Nationen, von denen diejenigen zwangsläufig obsiegen würden, welche die erlittenen Verluste dauerhaft auszugleichen vermochten; das waren eindeutig die Staaten der Entente, die zudem mit den USA einen wirtschaftlich weitgehend autarken und starken Bündnispartner hinzugewannen. So gesehen war das Feldeisenbahnwesen nicht nur essentieller Bezugspunkt militärischer Planungen, sondern auch Gradmesser für die industriell-wirtschaftliche Leistungskraft aller kriegführenden Staaten.

Es ist das bleibende Verdienst des Militärhistorikers Horst Rohde, ehemals Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA), durch die wissenschaftlich akribische Bearbeitung des zweiten Bandes (1915 bis 1918), der als Manuskript im Archiv wiederentdeckt worden war, die Herausgabe der vor nicht weniger als achtzig Jahren geplanten Edition „Das deutsche Feldeisenbahnwesen“ als damals integraler Bestandteil des sogenannten Weltkriegswerkes nunmehr komplettiert zu haben. Der erste Band (1914) ist bereits im Jahr 1928 erschienen; danach lag das Projekt aus verschiedenen Gründen brach. Die jetzt vorliegende Gesamtausgabe, lei­nengebunden, handwerklich vorzüglich ausgearbeitet und durch die Präsentation im Schuber eine bibliophile Delikatesse, wird von einer Sammlung faksimilierter historischer Karten abgerundet und schließt eine jahrzehntelang klaffende Lücke in der Weltkriegsforschung.

Horst Rohde (Hrsg.): Das deutsche Feldeisenbahnwesen im Ersten Weltkrieg. 3 Bände im Schuber. Verlag E. S. Mittler & Sohn, Hamburg 2011, gebunden, 728 Seiten, Abbildungen, 79,90 Euro

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