© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/12 09. November 2012

Der Flaneur
Sprachlos gemeinsam
Ellen Kositza

Das Kind ist krank. Hochansteckend vermutlich. Immerhin – der Vorzug eines Einzelzimmers. Tage später ist es weiter krank, aber definitiv nicht ansteckend. Mehrbettzimmer, leider. Völlig uninteressante Frau, um die Dreißig wohl, Kind anscheinend knapp zwei. Ausgeprägter Dialekt. Bloß nicht reden müssen, kein Krankheitsgeschichtenaustausch, Gruß zum Morgen und zum Abend sollte reichen. Was hätte man sich auch zu erzählen, hat nicht jeder seines zu tragen? Freundlichkeit ausstrahlen ohne Redegeneigtheit zu vermitteln; es klappt. Vorsichtige Anbahnungen kann man abbiegen.

Die Zimmergefährtin trägt rosa Schuhe und stets rosa Oberteile, manchmal mit heiterer Aufschrift. Auch ihr Haken im gemeinsamen Bad ist rosa bestückt. Ihre Haare sind angegraut. Nichts Besonderes in diesem Alter, man sieht es nur selten in Zeiten, in denen eine Coloration für vier Euro im Supermarkt zu haben ist. Das wirkt teils sympathisch, teils nachlässig, uneitel auf jeden Fall. Mit ihrem Mädchen ist sie lieb, redet sie nicht viel, keine Bücher; kein Wunder, daß das Kind kaum spricht.

Ab sieben, wenn das Kind schläft, schaltet sie allabendlich den Fernseher ein und setzt die Kopfhörer auf. Gegen neun holt sie das schlafende Mädchen zu sich ins Bett, jede Nacht. Mittags sitzt sie eine Stunde am Bett, bis das Kind endlich schläft und anderthalb weitere, während es schläft. Ohne Handy, ohne Buch, einfach so, Blick aus dem Fenster, eine mechanische Spieluhr dutzendemal aufziehend. Manchmal abends telefoniert sie mobil, es gibt noch weitere Kinder zu Hause.

Am vierten Tag des weitgehend sprachlosen Zusammenwohnens bringt die Schwester einen kleinen Blumenstrauß. Doppelter Anlaß: Die Kleine wird fünf. Fünf, dieses Häufchen! Und: „Frau Soundso, wir haben nachgeschaut: Sie und ihre Tochter sind heute, alles zusammengerechnet, genau den 600. Tag bei uns!“ Man hört mit, kann ja nicht anders. Und nun? Gratulieren? Beileid? Jedenfalls: Zeit, sich ein bißchen zu schämen.

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