© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/12 16. November 2012

Gebetbuch statt Pflasterstein
Bundestagswahl: Die überraschende Nominierung Katrin Göring-Eckardts als Spitzenkandidatin hält den Grünen alle Optionen offen
Paul Rosen

In der Politik ist man vor Überraschungen nicht gefeit. Das Lagebild ändert sich täglich – manchmal noch schneller. So läßt sich die falsche Erwartung der gesamten Medien- und Politikszene zusammenfassen, Bundestagspräsidentin Katrin Göring-Eckardt „würden nur geringe Chancen eingeräumt“, Spitzenkandidatin der Grünen für die Bundestagswahl zu werden. Nach Auszählung der Stimmen lag die aus Erfurt stammende Protestantin, die sich so gerne mit dem Titel „Präses der EKD-Synode“ schmückt, am vergangenen Wochenende mit 47,3 Prozent weit vorn. Während die als Favoritin ins Rennen gegangene Parteichefin Claudia Roth mit 26,2 Prozent ein Debakel erlebte und nur durch viel gutes Zureden dazu bewegt werden konnte, erneut für den Vorsitz zu kandidieren, leuchtet der Stern der 46 Jahre alten Göring-Eckardt immer heller – und läßt die politische Ebene kippen.

Gerade von bürgerlich orientierten Wählern wurden die Grünen bis in die jüngste Zeit immer noch als Revoluzzer, Hausbesetzer und Straßenkämpfer wahrgenommen. Gruselig erzählte man sich Legenden vom militanten Göttinger Jürgen Trittin (71,9 Prozent) und vom Frankfurter Taxifahrer Joschka Fischer. Andere Spitzen-Grüne wie Renate Künast (38,6 Prozent) und auch Claudia Roth paßten in das Bild, der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann sowie der neue Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn schon nicht mehr. Die Nominierung von Göring-Eckardt ist nicht nur eine schwere Klatsche für Roth, sondern zeigt einen Paradigmenwechsel dieser Partei. Statt mit Pflastersteinen und Demonstrationen kommen Grüne mit dem evangelischen Gebetbuch daher. Den von Kretschmann begründeten und von Kuhn erweiterten Brückenkopf im bürgerlichen Lager wird Göring-Eckardt deutlich vergrößern. Der andere Spitzenkandidat Trittin ist längst kein „Reichenschreck“ (Wirtschaftswoche) mehr, trägt maßgeschneiderte Anzüge und jettet zum Ferienhaus auf die kanarische Promi-Insel Gomera – mag das grüne Fußvolk doch mit dem Fahrrad durch Berlin hetzen. Trittins Ziel besingt der Kabarettist Andreas Rebers: „Ein grüner Bundespräsident liegt vorm Kamin.“

Man mag die Parteielite für Spießbürger halten, aber bei einem wachsenden Teil der Wählerschaft kommt diese Haltung an: Gegen Atomkraft, für Weltfrieden, Zivilgesellschaft, Genderpolitik und Energiewende. Das deutsche Bürgertum hat neue romantische Ideale gefunden.Jeder siebte wählt grün. Lag die Partei schon vor der Nominierung von Göring-Eckardt im „Deutschlandtrend“ bei 14 Prozent, so könnten sie noch weiter steigen und das Erbe von Guido Westerwelles FDP-Projekt 18 übernehmen. Egal ob die Vorsitzende Roth am Wochenende beim Grünen-Parteitag tatsächlich, wie nach ihrer Demütigung zu erwarten ist, mit einem sehr guten Ergebnis wiedergewählt wird – mit dem neuen Spitzenduo haben sich die Grünen so breit wie möglich aufgestellt: Trittin steht für die rot-grüne und Göring-Eckardt für die schwarz-grüne Option, wobei beide aber Profis genug sind, um bei Bedarf die Prioritäten zu wechseln.

Bitter ist die Lage für die größte Oppositionspartei SPD. Ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, dem schon früher nicht mehr als die Vizekanzlerschaft zugetraut wurde, versinkt in einem Sumpf hoher Redehonorare und Tantiemen. „Genosse Millionär“ spottete der Bayernkurier, und die Frankfurter Allgemeine fragte: „Wer hätte Peer Steinbrück einen solchen Fehlstart zugetraut?“ Der Ansehensverlust nach den Veröffentlichungen über bis zu 25.000 Euro betragende Honorare scheint jedenfalls dramatisch. In der Tat passen die von der SPD wie eine Monstranz getragene soziale Gerechtigkeit und die hohen Nebeneinkünfte des Spitzenkandidaten nicht zusammen. Für das von Steinbrück von den Stadtwerken im verarmten Bochum kassierte Redehonorar von 25.000 Euro müßte eine Putzfrau mit sieben Euro Stundenlohn jahrelang putzen. Selten wurde eine Premiere so verstolpert wie von Steinbrück, dessen SPD bei 30 Prozent festhängt.

Merkels CDU sonnt sich dagegen in Umfragen derzeit bei 40 Prozent. Im bürgerlichen Lager erscheint die Union den Wählern offenbar als „alternativlos“. Andersmeinende gehen nicht mehr wählen, und die FDP rast „ratlos in den Untergang“, wie die Welt feststellte. Parteichef Philipp Rösler versucht sich mit der Abschaffung der Praxisgebühr zu retten. Offenbar hatte ihm niemand gesagt, daß die überwiegend privatversicherte FDP-Klientel keine Praxisgebühr zu zahlen hat.

Schwere Fehler machte Rösler in seiner Amtszeit, die nach den in Berlin umlaufenden Gerüchten nach der niedersächsischen Landtagswahl im Januar 2013 beendet sein soll. Die Energiewende widerspricht physikalischen und finanziellen Gesetzen. Statt für die Wahrheit zu sorgen, schafft Wirtschaftsminister Rösler die unternehmerische Haftung bei Offshore-Windanlagen ab. In ähnliche Richtung geht ein Vorstoß Röslers, den Weiterbetrieb alter und besonders umweltschädlicher Kraftwerke gesetzlich zu erzwingen, so daß ausgerechnet die Marktwirtschaftspartei marktwirtschaftliche Grundsätze verrät. Im „Überlebenskampf des Scheinriesen“ FDP dürfte die Macht dem redseligen Fraktionsvorsitzenden Rainer Brüderle zufallen, der sie allein schon aus Altersgründen eigentlich nicht will. Kampfbereit wirkt die FDP schon längst nicht mehr, und hat damit bereits verloren, ehe der Wahlkampf beginnt.

Foto: Grünen-Spitzenkandidaten Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt (vorne), Verliererin Claudia Roth: Leuchtender Stern

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