© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/12 16. November 2012

„Unglaublich furchtbare Jahre“
Lebensgeschichten: Kriegswaise Willi Kranz über familiäre Schicksalsschläge und harte Zeiten des Überlebenskampfes zwischen 1945 und 1947
Ronald Gläser

Das Grab ihrer Mutter finden Willi und Arno Kranz schließlich auf einem Warnstedter Friedhof. „Dort liegt sie beerdigt“, sagt Willi. Er ist der Ältere der zwei. Er und sein Bruder sind in dem Moment alles, was von der sechsköpfigen Familie übriggeblieben ist. Beide halten kurz inne, sprechen ein Gebet für die Mutter.

Das Schicksal der Kranz’ ist eine Familientragödie, wie sie deutscher kaum sein könnte. Willi und Arno Kranz haben durch den Krieg die Eltern und beide jeweils ein Bein verloren. Von ihren zwei jüngeren Geschwistern wurden sie durch die Teilung Deutschlands getrennt. In ihnen verdichtet sich das Schicksal der Deutschen im 20. Jahrhundert.

Das Unheil nahm seinen Lauf, als der Krieg 1945 die Heimat erreichte. Vater Willy war als Hilfspolizist eingerückt, Mutter Margarete blieb mit den Kindern im Häuschen in Magdeburg zurück: Willi (11), Arno (9), Annemarie (6) und Werner (1).

Dann der verheerende Bombenangriff der Amerikaner auf Magdeburg am 16. Januar. Die Kranz’ kamen mit dem Schrecken davon. Als die Nachbarin, Frau Bachmann, einen Monat später aus Dresden zurückkam, berichtete sie Schreckliches: Was sie dort gesehen hatte, überstieg alles bislang Dagewesene. „Wir müssen weg aus Magdeburg“, flüsterte sie Margarete Kranz zu. Auf eigene Faust verließen die Frauen mit ihren acht Kindern die Stadt und suchten sich eine Bleibe auf dem Land, was nicht so einfach war, schließlich war „schon alles voll mit schlesischen Flüchtlingen“, erinnert sich Willi Kranz. In Warnstedt, einem Dorf in Sachsen-Anhalt, kam die Familie schließlich unter. Die Kranz’ bei dem einen Bauern, die Bachmanns bei dem anderen.

Der Krieg war fast vorbei. Alles wartete auf die Alliierten oder die Kapitulation. Angeblich stand in dem Dorf ein Munitionszug. Zudem waren dort einige Soldaten untergebracht, aber die „waren nicht mehr in der Lage, Krieg zu führen“, so Willi Kranz.

Trotzdem eröffneten die Amerikaner am 19. April 1945 mit schwerer Artillerie das Feuer auf den Ort. Willi Kranz war gerade mit dem Sohn des Bauern dabei, entlaufene Küken wieder einzufangen. Die Jungs sprangen schnell in den Kartoffelkeller und waren halbwegs geschützt. Auch die älteren Geschwister konnten sich dorthin flüchten. Nicht so Mutter Margarete. Sie kam aus dem Haus gestürmt, den einjährigen Sohn auf dem Arm. Mitten auf dem Hof zerfetzt sie eine niedergehende Granate. Sie stirbt – wie auch mehrere Fremdarbeiter im Dorf.

Arno, Willi und Annemarie müssen das mit ansehen. Doch was ist das? Werner, der Jüngste, den die Mutter auf dem Arm gehalten hat krabbelt im Granathagel über den Hof. Willi überlegt nicht lange, springt los, rennt zu seinem Bruder Werner. Die beiden anderen hinterher. Willi erreicht den Jungen, greift ihn. Zurück zum Keller. Noch zwei Schritte, noch einer. Der Kartoffelkeller ist zum Greifen nach. Da saust die nächste Granate vom Himmel herab und explodiert krachend.

Die Kinder werden von Splittern durchsiebt und durch die Druckwelle zu Boden geworfen. Arno und Willi hat es am Bein erwischt, Annemarie am Rücken. Willi erinnert sich noch, wie er versucht weiterzukrabbeln in Richtung Kartoffelkeller. Aber es geht nicht mehr. Wenigstens ist Klein-Werner nichts passiert, denkt er noch. Der Einjährige blieb als einziger unverletzt.

US-Soldaten bringen die drei älteren Kinder später in ein Krankenhaus in Quedlinburg. Bei Willi ist die Sache schnell klar. Das Bein ist zerfetzt und nicht mehr zu retten. Es muß ab. 1945 wurde nicht lange gefackelt. Auch nicht bei Elfjährigen. Der neunjährige Bruder bekommt einen Streckverband, aber er schreit wie am Spieß. Nach einigen Tagen wird der Verband abgenommen: Die Wunde ist voller Maden. Willi Kranz muß schlucken, wenn er diese Geschichte erzählt. Nicht nur wegen des Anblicks – auch deshalb: Die Ärzte fragen ihn als den Ältesten der vier, ob er mit einer Amputation von Arnos Bein einverstanden ist. Andere Angehörige sind schließlich nicht mehr da. „Was sollte ich da sagen – als Kind?“

Das Bein kommt ab. Willi und Arno sind jetzt Kriegsversehrte. Schwester Annemarie behält zwar ihr Bein, hat aber lebenslange Schmerzen wegen mehrerer Splitter in den Beinen und im Rücken. Zudem sind sie jetzt Halbwaisen.

Während die Kinder auf ihre Genesung warten, geht der Krieg zu Ende. Werner ist bei Familie Bachmann gut aufgehoben. Die Nachbarfamilie blieb unverletzt. Die Jungs erhalten Prothesen. „Urplötzlich kam unser Vater und holte uns ab“, berichtet Willi Kranz. Der Vater war der Kriegsgefangenschaft entgangen und nach Hause gekommen. Die Familie war weg. Schnell brachte er in Erfahrung, was sich zugetragen hatte. Der Vater holte die drei Kinder im Juni 1945 heim nach Magdeburg.

Die mitteldeutsche Stadt war zu dem Zeitpunkt von den Amerikanern besetzt. „Doch über Nacht waren die Russen da“, erinnert sich Kranz. Sofort setzte eine Verhaftungswelle ein. Verhaftete kamen in die jetzt ungenutzten KZ‘s der Nationalsozialisten wie Buchenwald, die bereits im August unter neuer Führung wieder betrieben wurden.

So erging es auch Willy Kranz, dem Vater von Willi Kranz. Ein linientreuer Polizist erschien und holte den Vater ab. Der Polizist versicherte noch, es werde nicht lange dauern.

Nun war auch der Vater der Kranz-Kinder weg, und sie waren auf sich selbst gestellt. Werner kam zu einem Onkel und dessen Familie. Annemarie kam zu entfernten Verwandten. Und die beiden einbeinigen Jungs kamen in ein Kinderheim in Schönebeck. „Das waren unglaublich furchtbare Monate“, erinnert sich Willi Kranz. Es habe fast nichts zu essen gegeben. Die Kinder seien betteln gegangen, um einen Kanten Brot zu bekommen. Wenn Willi Kranz von dieser Zeit berichtet, muß er innehalten und sich Tränen aus den Augen wischen.

1946 kommen die Brüder zu einem anderen Onkel auf den Bauernhof in Lindau, Sachsen-Anhalt. Dort wurden sie wieder eingeschult. Bis zum 14. Lebensjahr lernte Willi dort, dann begann er am 1. August 1948 eine Lehre als Bankkaufmann.

Zwei Jahre später zogen Willi und Arno beim Onkel aus und in die örtliche Gastwirtschaft ein. Eine kinderlose Frau, Tante Alma, nahm sich ihrer an. Und Willi konnte ja jetzt mit seinem spärlichen Gehalt die Miete für das Zimmer in der Gastwirtschaft zahlen. Und auch daran erinnert er sich noch lebhaft: „Häufig kamen russische Soldaten und tranken Wodka aus Bierkrügen.“

Willi Kranz beendete seine Lehre 1951 und wechselte von der Sparkasse zur Bank für Handwerk und Gewerbe. Die Bank war zunächst noch nicht SED-gelenkt, aber der Druck auf Andersdenkende nahm zu. „Nach dem, was mit meinem Vater geschehen war, war es kein Wunder, daß ich Aversionen gegen das Regime hatte“, sagt Willi Kranz.

Es war keine einfache Zeit für Nicht-Kommunisten. Willi Kranz sitzt mit seinem Fotoalbum da und zeigt auf einen Mann im dunklen Anzug. „Herr Malecki, einer von meinen Lehrern, der fliehen konnte, bevor er abgeholt werden sollte.“ Er berichtet von Hamsterern, also Personen, die auf dem Land Lebensmittel erworben haben. Sie wurden von der Polizei enteignet, wenn sie auf der Heimfahrt erwischt wurden. Und wieder zeigt er auf ein anderes Bild: „Dieser Freund wurde auch von den Sowjets erschossen.“ Oft geriet Kranz mit den Genossen aneinander. Deshalb warnte ihn ein lokaler Polizeihauptmann: „Paß auf, sonst bringe ich dich auch dahin, wo dein Vater ist.“

Was genau mit dem Vater geschehen war, war aber nicht herauszufinden. Immer wieder wandte sich Willi Kranz an die Behörden mit der Bitte um Auskunft. Doch die wurde nicht erteilt. Keine Antwort, keine Gewißheit.

Willi und Arno halten es nicht mehr aus in der Zone. Mit dem Zug reisen sie 1953 nach West-Berlin. Von dort geht es mit dem Flugzeug über Hannover in den Westen. Aufnahmelager. Neuanfang. Schon nach wenigen Tagen bekommt Willi Kranz eine Stelle bei der Commerzbank in Koblenz. Später ziehen die beiden Brüder nach Hamburg. Mit dem Ersparten wird ein Haus gekauft. In Sülldorf finden Willi Kranz und seine Frau ein Zuhause für sich und ihre Familie. Das Paar hat drei Kinder und inzwischen drei Enkelkinder. Der Kontakt zu den Geschwistern ist trotz der Teilung nie abgebrochen. Briefe, Anrufe und Besuche, auch nach dem Mauerbau. Es ist die typische deutsch-deutsche Familiengeschichte.

1963 dann Gewißheit, was das Schicksal des Vaters angeht. Ein ehemaliger Häftling gibt im Westen beim Roten Kreuz zu Protokoll, er habe den Vater der Kinder im Juni 1948 – also drei Jahre nach seiner Verhaftung – sterben gesehen. Im KZ Buchenwald, wo er in einem Massengrab beigesetzt worden sei. Bis 1946 habe Willy Kranz im „Justizpalast“ in Magdeburg eingesessen, dann sei er mit Hunderten von Inhaftierten ins KZ abtransportiert worden.

Arno ist 2008 verstorben. Annemarie lebt mit ihrem Mann in Parchim, Werner in Magdeburg. Willi Kranz mit seiner Frau und der Familie seiner Tochter in einem Hamburger Vorort. Manchmal besucht er das Grab der Mutter in Warnstedt – und ist doch dankbar, daß wenigstens die Kinder mit dem Leben davongekommen sind.

 

Schwere Schicksale der Kriegswaisen

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges gab es in Deutschland cirka 500.000 Vollwaisen sowie 20 Millionen Halbwaisen, die zumeist ohne Vater aufwuchsen. Vor allem die Vollwaisen waren in den ersten Nachkriegsmonaten auf sich allein gestellt, auch wenn sie bei entfernten Verwandten, in Auffanglagern, primitiven Notunterkünften oder in überfüllten Kinderheimen untergebracht waren. Erst zwei Jahre später waren durch den Aufbau karitativer Einrichtungen kleine Erfolge zu verbuchen. So wurde etwa im Dezember 1947 nahe Münster das katholische Vinzenzwerk Handorf e.V. eröffnet. „Alles Wasser“, so die Annalen, „mußte draußen an der Pumpe geholt werden, für das Baden, für die Wäsche, für die Toiletten, und heißes Wasser mußte alles vom Herd in der Küche kommen.“ Auch die Gründung des Hilfsprogramms SOS-Kinderdorf im Jahr 1949 in Imst (Tirol) versinnbildlicht die langjährige Notsituation deutscher Kriegswaisen.

Foto: Kriegswaise Willi Kranz: Wir waren gezwungen, betteln zu gehen, um einen Kanten Brot zu bekommen

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