© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/12 16. November 2012

„Ein paar ganz kleine Plätzchen“
Vor siebzig Jahren wurde die 6. Armee in Stalingrad eingekesselt / Hitler verweigerte den Ausbruch aus der sowjetischen Umklammerung
Guntram Schulze-Wegener

Ich wollte zur Wolga kommen, und zwar an einer ganz bestimmten Stelle, an einer bestimmten Stadt. (...) Weil dort ein ganz wichtiger Punkt ist. (...) Ein gigantischer Umschlagplatz. Den wollte ich nehmen und – wissen Sie – wir sind bescheiden, wir haben ihn nämlich! Es sind nur noch ein paar ganz kleine Plätzchen da.“

Diese „Plätzchen“ waren ein Zehntel einer Stadt, um die seit Wochen mörderisch gerungen wurde und die Hitler in seiner berühmten Rede im Münchner Bürgerbräukeller am 8. November 1942 mit Stoßtrupps zu nehmen ankündigte, „weil ich dort kein zweites Verdun haben will“. Die öffentliche Ankündigung verpflichtete. Sie verpflichtete dazu, keinen Meter Boden jener prestigeträchtigen Metropole preiszugeben, die den Namen Stalins trug. Folgerichtig verweigerte der deutsche Diktator rund zwei Wochen später, als sich der Ring um Stalingrad geschlossen hatte und über eine Viertelmillion deutscher Soldaten mit ihren Verbündeten in der Falle saßen, dem Oberbefehlshaber General Friedrich Paulus den Ausbruch. Es bahnte sich eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes an, deren Ausgangspunkt zwei Jahre zurücklag und die Hitler mit seinem öffentlichen Wort nunmehr unumkehrbar gemacht hatte.

Nachdem sich der deutsche Angriff auf Moskau im Herbst 1941 in Schlamm und Schnee festgefahren hatte (Unternehmen „Taifun“) und ein Zusammenbruch der Ostfront nach der am 5. Dezember 1941 begonnenen sowjetischen Gegenoffensive gerade noch hatte abgewendet werden können, erließ Adolf Hitler am 5. April 1942 die Weisung Nr. 41, in der alle wesentlichen Operationen an der Ostfront für das Jahr 1942 festgelegt waren. Mit einem geplanten Vorstoß zu den Ölgebieten des Kaukasus – Fall „Siegfried“ (ab 30. Juni „Blau“) – lag der Schwerpunkt 1942 im Südabschnitt der Ostfront. Der weitere Vorstoß sollte über den Iran auf den Irak zielen. Hitler hoffte, die Sowjetunion mit dieser Offensive entscheidend zu treffen oder sie zumindest aus dem südrussischen Raum von den lebenswichtigen Rohstoffquellen abzudrängen, um diese für die eigene Kriegführung nutzbar zu machen.

Wegen der hohen Verluste des deutschen Heeres im Winter 1941/42 – die Wehrmacht hatte rund 35 Prozent ihrer Mannschaftsstärke eingebüßt – war die Beteiligung der Verbündeten jetzt dringend erwünscht, um den personellen Fehlbestand ungefähr auszugleichen. Ungarn und Italien stellten jeweils eine Armee, Rumänien zwei. Fünf deutsche Armeen sowie zunächst drei Armeen der verbündeten Streitkräfte – die 4. rumänische Armee traf erst später ein – standen für die Offensive bereit, deren Beginn für den 28. Juni 1942 angesetzt war.

Die deutschen Angriffsspitzen erreichten zügig den Don bei Woronesch, doch es gelang nicht, die sich auf einem strategischen Rückzug hinter die Don-Wolga-Linie befindlichen starken sowjetischen Kräfte zwischen Donez und Don einzukesseln. Hitler, der die sowjetische Widerstandskraft für gebrochen hielt, teilte die Heeresgruppe Süd in Heeresgruppe A im Süden und Heeresgruppe B im Norden. Dieser folgenschweren Entscheidung am 7. Juli folgte wenige Tage später eine weitere: In seiner Weisung Nr. 45 vom 23. Juli 1942 änderte der Diktator den gestaffelten Operationsplan ab, indem nun zwei Vorstöße gleichzeitig zu erfolgen hatten: mit der Heeresgruppe B auf Stalingrad und mit der Heeresgruppe A über den Kaukasus.

Bei der Heeresgruppe B entstand so eine von den Armeen der Verbündeten gesicherte Hunderte von Kilometern lange Nordflanke. Die Heeresgruppe A, die in den Kaukasus vordringen konnte, verfügte nicht über die Kräfte für den endgültigen Stoß, weil die Nachschublinien hoffnungslos überdehnt waren. Wie geplant stieß die 6. Armee nach Stalingrad vor und konnte in schwersten Kämpfen 90 Prozent der Stadt nehmen. Die nach Nordwesten verlaufende Frontlinie wurde von der rumänischen 3. Armee, daran anschließend von der italienischen 8. Armee und der ungarischen 2. Armee gedeckt. An der rechten Flanke, südlich von Stalingrad, standen Teile der 4. Panzerarmee und die rumänische 4. Armee.

Auf sowjetischer Seite war für den Winter ebenfalls eine gestaffelte Großoffensive angesetzt: Vormarsch bis Rostow an der Donmündung und Abschneiden aller zwischen Don und Kaukasus eingesetzten deutschen Verbände. In der ersten Phase sollte die deutsche 6. Armee in Stalingrad eingekesselt und vernichtet werden. Am 19. November 1942, der erste Schnee war gefallen, begann das Unternehmen „Uranus“, eine Zangenoperation, die einen Durchbruch bei der rumänischen 3. und 4. Armee und die Umfassung der 6. Armee zum Ziel hatte. Feuer aus 12.000 Geschützen eröffnete die gewaltige Offensive; dann überrannten die sowjetischen Fronten „Don“ und „Südwest“ die Stellungen der rumänischen 3. Armee und drangen tief ins Hinterland in den Rücken der 6. Armee vor. Am darauffolgenden Tag gelang der „Stalingrader Front“ bei der rumänischen 4. Armee im Süden der Durchbruch; schließlich trafen sich die Angriffsspitzen bei Kalatsch, 60 Kilometer westlich von Stalingrad. Am 23. November 1942 waren die 6. Armee, das IV. Armeekorps sowie zwei Divisionen der rumänischen 3. Armee eingeschlossen.

Einen sofortigen Ausbruch lehnte Hitler mehrfach ab. Generaloberst Paulus erbat Handlungsfreiheit, die der „Führer“ jedoch nicht gewährte. Er hoffte vielmehr, die Lage durch die von Reichsmarschall Hermann Göring zugesagte Versorgung der Armee aus der Luft sowie die Bildung des neuen Heeresgruppenkommandos Don unter dem bewährten Generalfeldmarschall Erich von Manstein bereinigen zu können.

Manstein, der die Aussichten anfangs zuversichtlich bewertet hatte, übersandte dem Oberkommando des Heeres (OKH) am 28. November eine Lagebeurteilung, in der er zu einer Entsatzoperation, aber auch zu einem Herausführen der 6. Armee aus Stalingrad riet. Hitler billigte diesen Vorschlag, ohne auf die Frage einer eventuell notwendigen Räumung der Front an der Wolga näher einzugehen. Vielmehr setzte er ganz auf die Entsatzoffensive („Wintergewitter“), für die es zu diesem Zeitpunkt militärisch sogar gute Gründe gab, denn die 6. Armee band nach wie vor enorme Kräfte der sowjetischen Südfront. Zum andern stellt sich die Frage, ob der Ausbruch von über 250.000 abgekämpften Soldaten überhaupt mit Erfolg hätte durchgeführt werden können.

Der Diktator konnte Stalingrad nicht aufgeben, auch und gerade wegen seiner voreiligen Verlautbarung vom 8. November, der Sieg sei den Deutschen nicht mehr zu nehmen – und fand in Paulus einen willigen Helfer.

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