© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/12 16. November 2012

Offene Grenzen für alle
Zum universalen Menschenrecht auf Zuwanderung: Migrationspolitische Konsequenzen neuerer Gerechtigkeitstheorien
Oliver Busch

Fast zehn Jahre hat es gedauert, bis 2011 Thomas Pogges „Weltarmut und Menschenrechte“ in deutscher Übersetzung vorlag. Allerdings nicht in einem der großen, das linksliberale Lesevolk prägende Häuser wie Suhrkamp oder S. Fischer, sondern im noblen Wissenschaftsverlag De Gruyter, der sehr kleine Auflagen zu sehr hohen Preisen vertreibt. Da verwundert es, wenn Pogges seit langem in den USA als kosmopolitisches Manifest rezipiertes, bis in die UN-Administration hinein einflußreichen Werk hierzulande beinahe in einer Nische erscheint. Immerhin kostet das Buch des in Yale politische Philosophie und Ethik lehrenden deutschstämmigen Pogge nur freundliche 29 Euro, für De- Gruyter-Maßstäbe fast geschenkt.

Wenn diese Kampfschrift gegen einen „universalistischen“, wahlweise „partikularen“ oder „konservativen Nationalismus“ unter solchen verlegerischen Kautelen auch keine Massenresonanz erzielen dürfte, so ist ihr eine nachhaltige Wirkung vor allem in der akademischen Fraktion der bundesdeutschen Migranten-Lobby sicher. Wie euphorisch die Aufnahme zu werden verspricht, signalisiert schon der erste Rezensionsessay, den Albert Scherr (PH Freiburg) in der Sozialwissenschaftlichen Literatur-Rundschau veröffentlichte (64/2012). Der Altlinke Scherr, 1984 in Frankfurt über „Formen individueller Reproduktion im entwickelten Kapitalismus“ promoviert und seitdem permanent mit branchenüblicher Pamphletistik zu „Migration, Rassismus, Rechtsextremismus, interkultureller Bildung“ beschäftigt, zieht umstandslos die migrationspolitischen Konsequenzen aus Pogges Nationalismus-Kritik.

Wenn die alle Rechtfertigungsversuche der „Auffassung der Welt als einer Pluralität nationaler Systeme“ angeblich widerlegt, indem Pogge sie mit seinem Ideal einer „gerechten Weltwirtschaftsordnung“ konfrontiert, erscheinen kollektive Selbstbestimmungsrechte von Staaten oder ihre „nationalen Interessen“ hinreichend delegitimiert. So haben die Nationalstaaten aber eigentlich nur noch die Pflicht, sich selbst aufzulösen, damit eine internationale Ordnung verschwindet, die auf extremer Armut und gravierenden Ungerechtigkeiten basiert, so sind sie auch nicht länger moralisch berechtigt, ein Grenz- und Migrationsregime auszuüben.

Pogges „Gerechtigkeitstheorie“, so schlußfolgert Scherr, formuliert somit das radikalste Plädoyer für „offene Grenzen“ sowie für ein „unbegrenztes und unkonditioniertes Bleiberecht für Zugewanderte“. Damit geht Pogge noch über das von der Bundeszentrale für politische Bildung vertriebene Hauptwerk „Die Rechte der Anderen“ seiner Yale-Kollegin, der bekennenden Kosmopolitin Seyla Benhabib hinaus, die ebenso wie der in Habermas’ Fahrwasser segelnde, von Scherr wegen seiner restriktiven Ansichten geschurigelte Sozialphilosoph Claus Offe (Tübingen) Zuwanderungsregulierungen für vertretbar hält. Ein universales „Recht auf Einwanderung“, so lautet Benhabibs und Offes demokratietheoretisch fundierte Position, verletze das Selbstbestimmungsrecht der vom Massenansturm heimgesuchten Völker.

Dieser Einwand, der beide Denker statt für „offene“ nur für „durchlässige Grenzen“ eintreten läßt, beleuchtet zugleich die auffälligste, von Scherr sorgsam verdeckte Schwachstelle in Pogges Entwurf „globaler Gerechtigkeit“. Deutet der Yale-Philosoph doch selbst massive Zweifel daran an, ob eine Invasion von Armutsflüchtlingen nach Europa und Nordamerika den Planeten in ein Paradies der Gleichheit verwandelt. „Gerechtigkeitsorientierter“ dürfte wohl jene von Pogge nur gestreifte internationale Politik sein, die am Abbau politischer wie ökonomischer Fluchtursachen in Afrika und Asien auszurichten sei. Dafür bedarf es auf unabsehbare Zeit aber noch der „Pluralität nationaler Systeme“.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen