© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/12 16. November 2012

Die Soldaten waren jederzeit zur Gewalt fähig
Felix Römers Enthüllungen über die Wehrmachtssoldaten anhand von US-Abhörprotokollen
Stefan Scheil

Abgehörte Gespräche deutscher Kriegsgefangener machten in den letzten Jahren reichlich Schlagzeilen. Über die Arbeit des Historikers Sönke Neitzel berichtete sogar die Bild-Zeitung, die mit Hilfe der üblichen Bildfälschungen und Abhörzitaten aus britischer Gefangenschaft einen Bericht über die „Grausamkeit deutscher Soldaten“ zusammenphantasierte (JF 18/11). Felix Römer gehört zu Neitzels Forschungsverbund und präsentiert jetzt weitere Abhörprotokolle, diesmal aus den USA. Der Autor gibt an, diese einhundertzweitausend Seiten während eines viermonatigen Forschungsaufenthalts in Washington eigenhändig abfotografiert und zur Bearbeitung nach Mainz mitgebracht zu haben. Dies wäre in jedem Fall eine beachtliche Fleißarbeit, die eine solide Basis für künftige Forschung bilden kann.

Von einer soliden Basis kann man insofern sprechen, als die Entstehung des Materials präzise dokumentiert ist. Das ist nicht selbstverständlich. Was in den letzten zwei Dekaden über die Wehrmacht geschrieben wurde, war entweder unkontrollierbar anonym wie Neitzels Protokolle oder vielfach von sowjetischem Propagandamaterial beeinflußt. Letzteres wurde unter anderem durch die eifrigen Macher der Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung als angebliche Tatsache populär gemacht, inklusive erfolterter Geständnisse, Urteilen aus Schauprozessen oder platten Fälschungen.

Die Abhörprotokolle aus Fort Hunt entstanden dagegen, um als geheimes Material der Kriegsführung gegen Deutschland zu dienen. Da man in den Vereinigten Staaten kein Interesse hatte, sich selbst zu desinformieren und die gewonnenen Erkenntnisse weder für Strafverfolgung noch zu Denunziationen nutzte, sondern jahrzehntelang geheimhielt, sind die protokollierten Äußerungen mit großer Sicherheit echt. Davon abgesehen war die Verhör- und Abhörpraxis völkerrechtlich illegal. Als Sowjetkommissare kostümierte Amerikaner erpreßten die Gefangenen mit Auslieferungsdrohungen nach Sibirien. Teilweise wurden Gefangene unter Drogen gesetzt. Wie die Briten mischten auch die Amerikaner gezielt Provokateure – sogenannte „Stool Pigeons“ – unter die Soldaten, die sich beispielsweise zu nicht vorhandenen Verbrechen bekannten. Aber dies wird, so Römer, in den amerikanischen Protokollen regelmäßig vermerkt.

Gegenüber anderen Veröffentlichungen aus neuerer Zeit hat Römer zudem den Vorteil, die Äußerungen bestimmten Personen zuordnen zu können, über die von amerikanischer Seite auch persönliches Material, Kurzbiographien, Angaben zur soldatischen Laufbahn und ähnliches archiviert wurde. Damit wäre man aber leider schon bei den Aufgaben künftiger Forschung, denn erstaunlicherweise verzichtet der Autor darauf, diesen einzigartigen Vorteil zu nutzen. Eine statistische Aufarbeitung des Materials findet in „Kameraden“ nicht statt. Wer sich nach Herkunft, Beruf, Alter und Soldatenlaufbahn wie äußerte, darüber stellt Römer zwar diese oder jene allgemeine Behauptung auf. Eine wissenschaftliche Begründung dafür bleibt er allerdings schuldig. Jüngere Soldaten, die 1933 zwischen zehn und fünfzehn Jahre alt waren und politisch bewußt nur den Nationalsozialismus und diesen überwiegend als Erfolgsgeschichte kannten, seien dem Regime treuer ergeben gewesen als ältere. Das mag man annehmen und ist oft vermutet worden. Römer wiederholt diese Behauptung noch einmal, stellt sie jedoch nicht auf die Probe. Statt dessen bringt er Beispiele für das Gegenteil, offenbar ohne es zu bemerken. Die Lektüre legt nahe, daß familiäre und soziale Prägung einen mindestens gleichen Einfluß hatten wie das Alter.

Des Autors Flucht vor der möglichen Erkenntnis hat teilweise drastische Folgen. Zum einen hat der Rezensent selten ein Werk mit wissenschaftlichem Anspruch gelesen, in dem auf fast jeder Seite atemberaubende Platitüden der Sorte: „Die Männer arbeiteten auch bei der Wehrmacht nicht alle mit dem gleichen Engagement“, oder: „Um Konflikte zu vermeiden, mußte man sich an den militärischen Normen der Gruppe orientieren“ zu finden sind. Die Emphase, mit der so etwas als Erkenntnis präsentiert wird, läßt auf das Fehlen eigener Erfahrung mit militärischen Dingen schließen. Das gilt für den Soldatenalltag wie für die Beurteilung von Kriegssituationen. So trägt Römer an einer Stelle ernsthaft die Ansicht vor, deutsche Soldaten hätten im Prinzip jeden bewaffneten Rotarmisten erst auffordern sollen, sich zu ergeben, bevor sie auf ihn schossen.

Zum anderen ist selten im Abstand weniger Seiten und in diesem Ausmaß alles und das Gegenteil behauptet worden wie bei Felix Römer. Das gilt auch für das anscheinend unvermeidliche Kernthema heutiger Beschäftigung mit der Wehrmacht, das Wollen oder Mitwissen in Verbrechensangelegenheiten. Zeitgenössisch hat dies weder die Soldaten noch die amerikanischen Abhörbehörden sonderlich bewegt. In den Aufzeichnungen, die selbst ja nur einen geringen Bruchteil der Unterhaltungen darstellen, nehmen Antisemitismus und Verbrechensfragen laut Römer nur ein Prozent ein, selbst wenn man das Thema weit faßt. Römer stuft etwa die Beschwerden eines Soldaten über einen jüdischen Verhöroffizier als antisemitische Äußerung ein und den Ärger des Gefreiten Friedrich Killmann über die „dämliche Herrenvolktheorie“ als kritische Stellungnahme zum Holocaust. Was sie damit zu tun hat, bleibt unklar.

Im weiteren bemerkt der Autor wiederholt und ausdrücklich, die Soldaten hätten Verbrechen ehrlich und aus moralischer Empörung abgelehnt. Schreibt er dies gleich an mehreren Stellen, so schreibt er doch auch an einer ganzen Anzahl anderer Passagen, dieses kritische Verhalten sei nur Opportunismus gewesen. Auf der einen Seite behauptet er, soldatische Kritik am Völkermord sei in Fort Hunt „bar jeder Empathie“ dahergekommen und rücke daher die Soldaten in „die Nähe der Befürworter des Massenmords“. Zwei Seiten weiter schreibt er buchstäblich das Gegenteil: „Die Empathie mit den Opfern zeigte, daß die Soldaten die Massenmorde nicht nur vordergründig kritisierten.“ Erwähnt wurde das Geschehen wie gesagt überhaupt nur in einem winzigen Bruchteil der Gespräche. Römer spricht deshalb vom „Schweigen der Quellen“ und ist sich am Schluß doch sicher, daß praktisch alle alles gewußt haben und „jederzeit zu Gewaltexzessen fähig waren“.

Wissenschaft sieht anders aus. Wenn die Quellen aus Fort Hunt nun in Mainz tatsächlich der Forschung zugänglich sind, wird sich hoffentlich jemand finden, der den Datenbestand objektiv auswertet. Dann kann man darüber vielleicht auch eine Veröffentlichung produzieren, die auf ein Vorwort verzichtet, in dem ein namentlich an ihr Beteiligter sie selbst als „meisterlich“ lobt.

Felix Römer: Kameraden. Die Wehrmacht von innen. Piper Verlag, München 2012, gebunden, 544 Seiten, gebunden, 24,99 Euro

Foto: Vormarsch der Wehrmacht in der Sowjetunion, Herbst 1941: Jeden bewaffneten Rotarmisten erst auffordern, sich zu ergeben

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