© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/12 16. November 2012

Marshallplan für den ländlichen Raum
Regionale Zukunft: Ökologische Labore und Heimat der Energiewende / Aufgabe entsiedelter Randgebiete?
Mario Knorr

Führungsschichten, die ihrer Nation verkünden, sie fände ihr Heil als schuldbeladenes „Tätervolk“ per Selbstabschaffung in „Europa“ und durch multiethnische „Vermischung“, sollten nicht überrascht sein, wenn ihre Untertanen mit anarchisch-subversivem Protest antworteten, der einem Zeugungsstreik fatal ähnelt. Sozialpsychologisch sind das evidente, wenn auch nur von Außenseitern wie Thilo Sarrazin thematisierte Kausalitäten, wie die von der rasanten „Vergreisung“, die uns in die seit langem prognostizierte demographische Katastrophe geleitet.

Wie die konkret aussehen könnte, darüber geben ländliche Regionen Mitteldeutschlands Anschauungsunterricht. Und zunehmend, so warnt die an der Hochschule Niederrhein Allgemeine und Ernährungssoziologie lehrende Claudia Neu (Hauswirtschaft und Wissenschaft, 3/12), werde deutlicher, daß demographische Entwicklungen in Räumen, wo man wie in der Uckermark oder in der Altmark eine Stunde benötige, um den nächstgelegenen zentralen Ort zu erreichen, nur schmerzhafte Prozesse vorwegnehmen, die vielen westdeutschen Regionen demnächst bevorstehen.

Immerhin werde das Problem erkannt. Auf der Aufmerksamkeitsskala stünden „alternde, schrumpfende Räume“ momentan weit oben, und nie zuvor, so registriert Neu, hätten Wissenschaftler, Politiker und Journalisten derart großes Interesse an scheinbar trivialen Fragen wie der medizinischen Versorgung Vorpommerns, der Stärkung des ÖPNV in Mecklenburg oder dem Ausbau des Internets in Brandenburg gezeigt.

Ausdruck dieser frisch erwachten Sorge ist die von der Bundesregierung beschlossene Strategie zur Weiterentwicklung ländlicher Räume. Daran knüpft die im März von den Berliner Koalitionsfraktionen etablierte Arbeitsgruppe „Ländliche Räume, regionale Vielfalt“ an, deren erste Bestandsaufnahme die mittelfränkische CSU-Abgeordne Marlene Mortler in einem der demographisch induzierten Revolutionierung des Landlebens gewidmeten Heft der Politischen Studien (445/12) vorstellt.

Hält man statistische Schätzungen, wonach 2060 in Deutschland mit etwa 65 statt der heute gezählten knapp 81 Millionen Einwohner zu rechnen ist, für realistisch, dann trifft dieser Bevölkerungsrückgang strukturschwache Regionen früher und härter als das städtische Bundesgebiet. Um diesen Niedergang aufzuhalten, verordnen die Koalitionäre in Mortlers Papier eine Art Wunderkur: „Sicherung und Ausbau ländlicher Infrastruktur unter Berücksichtigung ökologischer Aspekte“.

Darunter verstehen sie – wie etwa in der Modellregion Elektromobilität Bayerischer Wald – einen großflächigen Laborversuch mit E-Autos. In der Verknüpfung mit örtlich erzeugtem „grünen Strom“ und „intelligenten Energienetzen“ stecke in dieser Antwort auf Individualverkehr und steigende Rohstoffpreise eine „gewaltige Chance“. Der sinkenden Landlust könne überdies aufgeholfen werden, wenn bis 2018 das erklärte Ziel des flächendeckenden Internetbreitbandausbaus realisiert werde. Bürgerwindparks und Energiegenossenschaften verwandelten das platte Land in eine „Heimat der Energiewende“. Vorstellbar sei überdies, die Regionen als Anlaufstelle ökologisch orientierter Wissenschaft und Forschung zu nutzen. Was spreche dagegen, neue Ideen und Technologien auch jenseits von Windkraft und Photovoltaik „in der Praxis auf den Höfen“ zu erproben – im Einklang mit EU-Programmen zur „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“?

Ferner gelte es, die Land-, Ernährungs- und Forstwirtschaft kräftiger als „Zukunftsbranche“, als Stütze von Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Dringend sei daher der immense Verlust von Agrarflächen zu stoppen. Ungeachtet der Bedürfnisse der Energiewende komme, angesichts von neun Milliarden Erdenbürgern 2030, der Nahrungsmittelerzeugung absolute Priorität zu. Darum kündigt Mortler „entschiedenen Widerstand“ der Union gegen Pläne der EU-Kommission an, ab 2014 stolze sieben Prozent der Agrarflächen aus ökologischen Gründen stillzulegen.

Steile umweltpolitische Ambitionen dieses Kalibers konterkarieren den grünen Marshallplan der Schwarzen, die darin zu Recht eine Mentalität wittern, die sich für Claudia Neu in dem oft gehörten Ratschlag verdichtet, wenigstens entlegene Regionen „einfach aufzugeben“ und sie der Natur zu überlassen. In Brüssel, darauf macht Neus Kollegin Alrun Niehage (Hochschule Osnabrück) aufmerksam, werden solche ökologisch bemäntelten Raumordnungskonzepte präferiert, um neue Leitbilder von einer weniger „(national-)staatsbedürftigen“ Gesellschaft durchzusetzen, die die Bundesregierung einladen, Abschied zu nehmen vom grundgesetzlich gebotenen Anspruch der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.

Mit diesem in der Verfassung verankerten traditionellen Verständnis nationaler Daseinsvorsorge steht Deutschland augenblicklich noch in einer Linie mit Schweden und Frankreich, wo man „im Interesse der gesamten Nation“ bemüht ist, die kulturellen Besonderheiten der Peripherie zu bewahren und regionale Disparitäten „nicht zu groß werden zu lassen“ (Neu). Folge man indes Brüsseler Wegweisungen, riskiere man mit der Abkoppelung von Gegenden, wo sich Fuchs und Has’ gute Nacht sagen, die Gefahr, den sozialen und sogar territorialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu sprengen. Am Ende stünde dann eine durch beschleunigte Alterung bedingte Marginalisierung von Räumen, die US-Ghettos glichen, die durch Peripherisierung und schwindende Selbstorganisierungskraft im Elend verharren.

Seit kurzem liegen für einige bis 2030 von Abwanderung und „Vergreisung“ bedrohte Regionen detaillierte Studien vor, die die Krisenszenarien von Mortler, Neu und Niehage bestätigen. Annäherungen an den Ökoausweg sind im Allgäu zu beobachten, wo man ein konventionelles Touristikangebot grün aufstockt, um als „Gesundheitsregion“ zu punkten (Politische Studien, 445/12).

Im Kreis Schleswig-Flensburg hingegen scheint man zu resignieren. Man stelle sich auf die gezielte Finanzierung von „Schwerpunkten“ ein, weil das Geld für flächendeckende Investitionen in soziale Infrastruktur nicht reiche, klagten die Schleswiger Nachrichten. Fest steht derweil, daß, wie Niehage mahnt, „nicht mehr viel Zeit ist“, da die Zahl der Bürger abnimmt, die noch eine starke regionale Identität und Bindung besitzen, um ihre Dörfer für die Zukunft zu rüsten.

Praktische Informationen bietet die Deutsche Vernetzungsstelle Ländliche Räume: www.netzwerk-laendlicher-raum.de

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