© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/12 16. November 2012

Ärzte und Abtreibung
Der gebrochene Eid
Wolfgang Philipp

Die Rolle der Ärzte bei der Dezimierung des Nachwuchses durch Töten ungeborener Kinder ist eine eigene dramatische Geschichte mit vielen Stationen und immer weiter fortschreitenden Veränderungen: Noch bis vor etwa 35 Jahren war die Lage klar und übersichtlich. Die deutschen Ärzte fühlten sich an den Eid des berühmten griechischen Arztes Hippokrates gebunden, der gegenüber seinen Göttern schwor, „daß ich nach bestem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Verpflichtung erfüllen werde“.

In einer ganzen Reihe von deutlichen Sätzen beschreibt Hippokrates seine Pflichten als Arzt (hier abgekürzt) zum Beispiel so: „Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht. (...) Der einzige Herr, dem der Arzt zu dienen hat, ist das Leben. Ich werde nie einer Frau ein Abtreibungsmittel geben.“

Daran fühlte sich die große Masse der deutschen Ärzteschaft gebunden. Abtreibungen, die ohnehin grundsätzlich strafbar waren (abgesehen vom Fall medizinischer Indikation, das heißt einem fundamentalen Konflikt zwischen dem Leben des Kindes und der Gesundheit der Mutter), kamen nicht in Frage, Ausnahmen hat es gegeben, diese waren aber illegal.

Zwischen dieser Ausgangssituation und den heutigen Verhältnissen gibt es keine Verbindung mehr. Seit vielen Jahren werden jährlich rund 300.000 Kinder in Deutschland abgetrieben, und zwar durch Ärzte. Das ist nur möglich, weil die Masse der Frauenärzte dem Schwangerschaftsabbruch heute ganz anders gegenübersteht, als dies damals der Fall war. Alle denkbaren Variationen sind vertreten: Von Frauenärzten, die nur gelegentlich eine Abtreibung vornehmen, bis zu solchen, die überwiegend von der Tötung ungeborener Kinder leben und jährlich Tausende solcher Fälle schrecklich „erledigen“. Wie konnte es zu einer solch totalen Veränderung der Gesinnung und Praxis eines ganzen Berufsstandes kommen, der für das Leben eines Volkes von entscheidender Bedeutung und hoch angesehen ist?

Die Antwort ist klar: Auch hier waren es politische Kräfte, der Gesetzgeber und schließlich die Rechtsprechung, welche die Ärzte im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen in eine immer schwierigere und auch oft in sich widerspruchsvolle Situation verstrickten:

Eine grundlegende Veränderung brachte das schon erörterte 15. Strafrechtsänderungsgesetz vom 18. Mai 1976, das eine Indikationsregelung einführte. Bei deren Vorliegen sollte der Schwangerschaftsabbruch „nicht strafbar“ sein, aber immer nur unter der Voraussetzung, daß die betreffende Indikation „nach ärztlicher Erkenntnis“ vorliegt. Auf diese Weise wurde die Verantwortung für das gesamte Abtreibungsgeschehen in Deutschland den Ärzten zugeschoben. Sie sollten auch in ihre „ärztliche Erkenntnis“ Gesichtspunkte aufnehmen, die mit ihrem Arztsein gar nichts zu tun hatten. Das gilt insbesondere für die kriminologische und noch deutlicher für die Notlagenindikation. Es sind Notlagen (wirtschaftlicher Art, Beziehungsprobleme etc.) denkbar, welche mit „ärztlicher Erkenntnis“ nichts zu tun haben. Jedenfalls war durch diese neue Gesetzgebung die bisherige Strafdrohung von den Ärzten genommen, die Richtigkeit der „ärztlichen Erkenntnis“ wurde in der Praxis so gut wie nie überprüft.

Auf diese Weise ergaben sich enorme Freiheitsspielräume, die insbesondere dazu führten, daß die „Notlagenindikation“ geradezu uferlos praktiziert wurde und man 250.000 bis 300.000 Abtreibungen pro Jahr unter die vier Indikationen des neuen Paragraphen 218a Strafgesetzbuch subsumierte. Eine Verstärkung dieser ärztlichen Stellung im Abtreibungsgeschehen entstand dadurch, daß die ursprünglich nur als Strafbefreiungsgründe formulierten vier Indikationen von einem Teil der Literatur und vor allem von der Rechtsprechung als „Rechtfertigungsgründe“ angesehen wurden. Damit entfiel jedes Unwerturteil über die ärztliche Mitwirkung im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen, sei es durch Beratung, sei es durch Vornahme des Abbruchs selbst.

Eine weitere Bedeutung kam der „ärztlichen Erkenntnis“ dadurch zu, daß die Krankenkassen in einem Beschluß vom 12. November 1975 untereinander vereinbarten, alle Abtreibungen, die von Ärzten vorgenommen wurden, als „nicht rechtswidrig“, das heißt als erlaubt und damit für die Krankenkassen durchführbar und finanzierbar anzusehen: Die Ärzte standen jetzt endgültig im Zentrum des Geschehens, ohne von irgendeiner Seite her gefährdet zu sein. Gegenüber früher hatte sich die Situation vollständig geändert. Natürlich erkannten jetzt auch viele Ärzte, daß sich mit Abtreibungen ebenso wie mit anderer ärztlicher Tätigkeit Geld verdienen läßt.

Auf der anderen Seite war aber stets klar, daß kein Arzt gezwungen werden darf, an einer Abtreibung mitzuwirken. Dementsprechend ist in Paragraph 12 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes formuliert, daß niemand verpflichtet ist, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken, also weder Ärzte noch Hebammen, noch sonst jemand. Diese Bestimmung gilt allerdings dann nicht, „wenn die Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden“. Man sollte also annehmen, daß in Deutschland die Ärzte trotz ihrer durch die strafrechtlichen Bestimmungen vollzogenen zentralen Einbindung in die Gesamtproblematik völlig frei seien, ob sie sich an dem Abtreibungsgeschehen in irgendeiner Weise beteiligen oder nicht. In Wirklichkeit ist diese Freiheit aber durch weitere Entwicklungen immer mehr beschnitten worden und hat die Frauenärzte in außerordentlich belastende und auch für die ungeborenen Kinder zusätzlich gefährliche Zwangslagen gebracht.

Unter dem Einfluß der geänderten Gesetzgebung waren immer mehr Krankenhäuser bereit, Abtreibungen im Rahmen der vier Indikationen vorzunehmen. Es entwickelte sich dementsprechend eine Tendenz, nur solche Frauenärzte einzustellen, die ungeachtet Paragraph 12 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes bereit waren, an Abtreibungen mitzuwirken. Das gleiche gilt für Hebammen. Schon bei der Bewerbung wurde und wird das Thema angesprochen, und es gab Fälle, in denen Frauenärzte, die sich um eine entsprechende Stelle im Krankenhaus bewarben, abgewiesen wurden, nachdem sie erklärt hatten, an Schwangerschaftsabbrüchen nicht mitwirken zu wollen. Eine solche Mitwirkungsbereitschaft war und ist in vielen Fällen ausdrückliche oder stillschweigende Voraussetzung für die Erreichbarkeit einer erstrebten Arztstelle oder gar Chefarztposition.

Dieser Wandel kam in einem mit knapper Mehrheit auf dem Ärztetag in Stuttgart im Mai 1995 verabschiedeten Text zum Ausdruck: „Es drängt sich der Verdacht auf, daß die Regelungen des Paragraphen 218c StGB dazu geschaffen werden, die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen für die Ärzte so gefährlich und unangenehm zu machen, daß sich nur noch wenige Ärztinnen und Ärzte dazu bereit finden werden. (...) Dieses Gesetzesvorhaben ist ein massiver Eingriff in die Arbeit von Frauenärztinnen und Frauenärzten und eine Brüskierung der gesamten deutschen Ärzteschaft.“

Durch diese Praxis wurden die Berufsaussichten für junge Ärzte, die Frauenarzt werden wollten, aber aus Gewissensgründen die Beteiligung an Schwangerschaftsabbrüchen ablehnten, immer schlechter. Es gibt viele Fälle, in denen dieser ärztliche Nachwuchs sich entschließt, statt Frauenarzt eine andere ärztliche Fachrichtung einzuschlagen, um diesem Konflikt aus dem Wege zu gehen. Auf der anderen Seite gab es Ärzte, welche die neuen Möglichkeiten begrüßten und sich auf die Vornahme von Abtreibungen spezialisierten mit der Folge, daß sie schon Zehntausende von Abtreibungen vorgenommen haben.

Es ist klar, daß durch diese Entwicklung die Chancen ungeborener Kinder in Deutschland, das Licht der Welt zu erblicken, jährlich hunderttausendfach zerstört wurden: Während es früher kaum Ärzte gab, die einen Schwangerschaftsabbruch vornahmen, sind es jetzt Tausende, die dazu bereit und vom Gesetzgeber autorisiert sind.

Eine weitere Gefährdung für das Überleben ungeborener Kinder, insbesondere solcher, bei denen eine Behinderung vermutet wird oder wirklich vorliegt, ergibt sich aus der schon beschriebenen zivilrechtlichen Rechtsprechung zur Arzthaftung. Diese ist für den Arzt etwa bei fehlgeschlagener Sterilisation oder bei Unterbleiben eines Schwangerschaftsabbruchs infolge nicht als ausreichend angesehener Information oder Beratung einer schwangeren Frau schlechthin existenzgefährdend: Der Bundesgerichtshof verurteilt in solchen Fällen die Ärzte regelmäßig dazu, den Unterhalt des dann doch geborenen Kindes zu bezahlen.

Wer solchen Risiken ausgesetzt wird, ist nicht mehr frei, die ihm anvertrauten Frauen rein sachbezogen zu beraten. Dabei ist immer noch zu berücksichtigen, daß auch das ungeborene Kind der Schutzpflicht des Arztes anvertraut ist. Angesichts der Existenzbedrohung durch Haftpflichtansprüche werden viele Frauenärzte alle nur erdenklichen Gesichtspunkte suchen und ansprechen, die möglicherweise die Frau veranlassen könnten, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Dann ist der Arzt immer auf der sicheren Seite. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche wird dadurch stark erhöht. Vielfach kommt es auch zu solchen, bei denen sich später herausstellt, daß das Kind überhaupt nicht behindert war.

Die betroffenen Ärzte werden durch diese Haftungsrechtsprechung in einen schwerwiegenden Gewissenskonflikt gestürzt: Sie haben zu wählen zwischen einer unbefangenen, Mutter und Kind voll einbeziehenden Beurteilung des Falles einerseits und den sie persönlich in ihrer Existenz bedrohenden Haftungsrisiken andererseits. Dadurch entsteht ein Druck auf die Ärzte dahin, im Zweifel alles zu tun, um ein ungeborenes Kind nicht ins Leben zu lassen, wenn auch nur der geringste Zweifel daran besteht, ob und inwieweit es behindert ist.

Es wäre deshalb dringend erforderlich, die Arzthaftung anders zu regeln und damit den unerträglichen Zwang, gewissermaßen eine Art „Einstandspflicht für den Tod“, von den Ärzten zu nehmen. Der Autor hat deshalb vorgeschlagen, durch Gesetzesänderung die rechtliche Qualifikation des Daseins eines Kindes oder der Unterhaltspflicht für ein Kind als Schadensquelle auszuschließen. Auch sollte aus dem Arztvertrag mit einer Schwangeren unabhängig von dessen Zielsetzung nicht abgeleitet werden können, daß der Arzt für die Vermeidung der Geburt eines unerwünschten, kranken oder behinderten Kindes rechtlich einzustehen, insbesondere im Fall der Geburt dessen Unterhalt als Schaden zu tragen hat. Entgegenstehende Vereinbarungen sollten nichtig sein.

Obwohl daraufhin eine Zeitlang auch in parlamentarischen Kreisen über eine Haftungsbegrenzung der Ärzte gesprochen wurde, ist nichts geschehen. Damit ist die Gefährdung des Nachwuchses auch an dieser Stelle unvermindert groß.

Die ganze Dramatik der hier entstandenen Situation kam zum Ausdruck in einer Äußerung von Günther Kindermann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). Dieser befaßte sich in der Zeitschrift Frauenarzt im Juni 2000 unter der Überschrift „Nun los Frauenheilkunde“ auch mit dem Thema und formulierte wörtlich: „Ja, selbst die Last des Tötens nimmt das Fach – ein singulärer Vorgang in der ärztlichen Tätigkeit – auf seine Schultern: Aus Verständnis und Hilfsbereitschaft für die Frauen.“

An anderer Stelle, in einer Eröffnungsrede des 53. Kongresses der DGGG, wiederholte Kindermann diese Aussage sinngemäß und kam dann zu der folgenden bemerkenswerten Formulierung: „Aber wer mag schon vorhersagen, ob nicht eine fernere Zukunft auch uns als willige Vollstrecker eines Zeitgeistes, eines als anmaßend empfundenen Individualismus betrachten wird, so wie man heute auf jene Arzte blickt, die vor 60 Jahren die Vollstrecker von Eugenik, Rassenhygiene und NS-Wahn gewesen sind.“

Hervorzuheben ist, daß Professor Kindermann immerhin anders als die Politik von „töten“ spricht: Er weiß ganz genau, worum es sich handelt; gleichwohl kommt es dazu, daß deutsche Ärzte alljährlich die genannte hohe Zahl von Abtreibungen vornehmen.

Auf Basis einer solchen „ärztlichen Ethik“ werden in Deutschland jährlich 300.000 ungeborene Kinder umgebracht.

 

Wolfgang Philipp, Jahrgang 1933, war unter anderem Syndikus der Dresdner Bank und arbeitet seit 1976 als Rechtsanwalt in Mannheim. Er ist Mitglied der Juristenvereinigung Lebensrecht. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die drohende Bankendiktatur („Systemrelevant“,JF 20/11).

Wolfgang Philipp: Zerstörte Zukunft. Wie Deutschland seinem Nachwuchs die Geburt verweigert, Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2012. Das Buch beschreibt die Rolle des Staates und der Parteien am Zustandekommen der massenhaften Abtreibung noch nicht geborener Kinder.

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