© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/12 23. November 2012

Die Scharfmacher
Warum der Dauerkonflikt zwischen Israel und der Hamas erneut eskalierte, ist nur schwer auszumachen
Günther Deschner

Die einen nennen ihre Militäroperationen in biblischer Sprache „Säule der Verteidigung“, die anderen drohten in verbaler Kraftmeierei damit, die „Tore zur Hölle“ zu öffnen: Wieder einmal hat sich der israelisch-palästinensische Konflikt an die Oberfläche der Nahostpolitik durchgefressen.

Ob die aus dem Gazastreifen in Richtung Israel abgefeuerten selbstgebastelten Kassam-Raketen oder die neu dazugekommenen iranischen Fadschr der Auslöser waren oder Israels Luftangriffe gegen verschiedene Ziele, bleibt umstritten. Die Liquidierung Achmed Al-Dschabaris jedenfalls, des militärischen Kommandeurs der Hamas, durch eine israelische Luft-Boden-Rakete markierte am Mittwoch vergangener Woche, daß ein neuer israelisch-palästinensischer Waffengang begonnen hatte. Manche in Israel, wie die liberale Tageszeitung Haaretz, wunderten sich über diese Tötung, gehörte Dschabari doch zu den Politikern, die seit geraumer Zeit um Vernunft bemüht waren. In Israel war er als Architekt der Freilassung des Gefreiten Gilad Schalit im Oktober 2011 noch gelobt worden – als der starke Mann, dem man sogar zutraute, Gruppen, die noch radikaler sind als die Hamas, zu zügeln.

Dschabari hatte gute Kontakte nach Kairo, die durch den Wahlsieg Mohammed Mursis noch enger wurden. Ägypten hatte sich schon während der Eskalationen der vergangenen Wochen darum bemüht, zu beiden Seiten Kontakt aufzunehmen. Vergangenen Donnerstag rief Kairo aber seinen Botschafter aus Tel Aviv zurück. Und dennoch erwartet man in Israel, daß Ägypten erneut seine Rolle beim Aushandeln eines Waffenstillstandes übernimmt. Das allerdings könnte kompliziert werden. Es war der ermordete Dschabari, der starke Mann in der Hamas, der frühere Waffenruhen durchsetzte. Ob sein bereits ernannter Nachfolger das Zeug dazu hat, ist offen.

Niemand kann auch vorhersagen, ob das ohnehin schwierige Verhältnis zu Kairo zu kitten sein wird. Der ägyptische Geheimdienst soll nur Stunden vor dem Attentat auf Dschabari einen detaillierten Entwurf für einen dauerhaften Waffenstillstand vorgelegt haben und dürfte entsprechend düpiert sein. In der internationalen Einschätzung über Ursachen und mögliche Auswirkungen des jüngsten Ausbruchs des Gaza-Konflikts gehen propagandistische und politische Einschätzungen weit auseinander (siehe Seite 9).

Die belanglosen Worthülsen der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton, des deutschen Außenministers Guido Westerwelle und anderer Amtsinhaber braucht man nicht zur Kenntnis zu nehmen. Am peinlichsten wurde der neue Gaza-Krieg aber von Angela Merkel versimpelt: Als sie – gemäß der von ihr proklamierten deutschen „Staatsräson“ – verlauten ließ, die Verantwortung für den neuen Gewaltausbruch liege „ausschließlich bei der Hamas“, mußte sie sich von Daniel Barenboim in der FAZ vorhalten lassen, es sei „alles andere als Luxus, wenn man sich weigert, die dumme Politik von Herrn Netanjahu zu unterstützen, so, wie Deutschland es macht, immer noch aus einem historischen Schuldgefühl heraus. Besser wäre es, den Juden zu helfen bei den Problemen, die sie heute mit den Arabern haben.“

Fest steht jedenfalls, daß der Palästinakonflikt nach einigen Jahren relativer Ruhe erneut auf der weltpolitischen Tagesordnung steht. Diejenigen hatten unrecht, die glaubten, die politischen Umbrüche in der arabischen Welt hätten das gemeinsame Schicksal von Israelis und Palästinensern dauerhaft aus den Schlagzeilen verbannt.

Doch Stillstand im Palästina-Konflikt hat niemals automatisch auch Entspannung bedeutet. Im Ringen um das Land zwischen Mittelmeer und Jordan folgten auf Perioden der Ruhe stets Gewaltausbrüche. Seit es Israel gibt, seit bald 65 Jahren, kulminieren die ungelösten Probleme am sichtbarsten in Gaza – ein Alptraum für beide Seiten. Schon David Ben Gurion hatte 1948 Angst, den Befehl zum Einmarsch in das Gebiet zu geben. Und noch in den neunziger Jahren wünschten sich die Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin und Schimon Peres den Landstreifen einfach weg. Wenn Gaza nur endlich im Meer versinken würde, soll Rabin einst in trauter Runde geflucht haben.

Am vergangenen Wochenende hat in Kairo ein Außenministertreffen der Arabischen Liga zum Thema Gaza stattgefunden. Das Gremium gelobte, Gaza angesichts der „israelischen Aggression“ zu helfen. Eine vom Vorsitzenden Nabil al-Arabi angeführte Delegation hat inzwischen den Küstenstreifen besucht. Ägypten versucht nun fieberhaft, einen Waffenstillstand zwischen Gaza und Israel zu vermitteln. Zudem sind Vierergespräche zwischen dem in Doha residierenden Chef des Hamas-Politbüros, Chalid Maschal, dem ägyptischen Präsidenten Mursi, dem türkischen Regierungschef Erdogan und dem Emir von Katar angekündigt. Das sollte auch der israelischen Führung bestätigen, wie sehr sich durch den jüngsten Gaza-Konflikt die politischen Gewichte in der Region verschoben haben.

Wann und wie das aktuelle Blutvergießen auch endet: Es wird so lange nur eine Ruhepause vor neuen Katastrophen sein, bis ein von der israelischen Propaganda wie von der Hamas-Rhetorik unabhängiges Bild des politischen und menschlichen Dramas, welches sich in dem verarmten Küstenstreifen mit seinen gut eineinhalb Millionen quasi gefangenen Menschen abspielt, die Einsicht der verantwortlichen Politiker beider Seiten bestimmt.

Beobachter fragen sich ohnehin, was Israel mit seiner Militäraktion gewinnen will – denn das offizielle Ziel der gesamten Operation, wie es Verteidigungsminister Ehud Barak als eine „radikale Veränderung der Sicherheitslage“ interpretiert, bleibt vage. Handelt es sich wirklich um die Abwehr einer tödlichen Bedrohung? Oder doch hauptsächlich um Politikerprofilierung für die Ende Januar stattfindenden israelischen Wahlen?

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