© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/12 23. November 2012

Haie und kleine Fische
Finanzindustrie: Der Derivatehändler Greg Smith rechnet mit der US-Investmentbank Goldman Sachs ab / Der Fehler liegt im Geschäftssystem
Michael Wiesberg

Mitte März sorgte der Goldman-Sachs-Manager Greg Smith erstmals für einen Paukenschlag: Zeitgleich mit seiner Kündigung veröffentlichte er in der New York Times die Gründe seines Abganges bei jener US-Investmentbank, die als – blickt man auf ihre vielfältigen Verbindungen in die Politik – wohl einflußreichste der Welt gelten kann.

In seinem Artikel machte Smith unter anderem seine Ex-Chefs Lloyd Blankfein und Gary Cohn für den Verfall der Geschäftskultur bei Goldman Sachs (GS) verantwortlich. Er monierte insbesondere, wie eiskalt GS-Mitarbeiter Kunden ausbeuteten, die intern nicht selten als „Muppets“ (Trottel oder Idioten) bezeichnet würden, die es „abzukassieren“ gelte. Der Begriff „Muppet“ machte die Runde; seitdem werden die Turbulenzen, die Smiths Attacke ausgelöst hat, in Anlehnung an die „Watergate-Affäre“ als „Muppetgate“ bezeichnet.

Nun hat Smith in Buchform substantiiert, was er in der NYT nur anreißen konnte. Wer allerdings erwartet hat, daß Smith nun seitenweise schmutzige Wäsche wäscht, dürfte sich enttäuscht sehen. Es ist eher die Geschichte seiner enttäuschten Begeisterung für GS, dem „Rolls Royce unter den Investmentbanken“, wie Smith schreibt, die hier nachgelesen werden kann. Und es ist die Geschichte der Platzhirsche und „toughen Winner“ mit ihren „Elefanten-Geschäften“, die im GS-Haifischbecken den Ton angeben. In dieser rauhen Welt, in der Mitarbeiter ständig „ausgesiebt“ werden, bleibt auf der Strecke, wer mit „kleinen Fischen“ nicht genügend „cash“ macht. Warum das so ist, erläutert ein Sales-Leiter im Buch martialisch wie folgt: „Wir haben nur eine gewisse Anzahl von Kugeln, die wir auf die Kunden abfeuern können. Und die sollten wir uns für die großen Elefanten aufheben.“

Daß Hochbegabung bei GS nicht automatisch die Karriere ebnet, macht Smith gleich zu Anfang seines Buches klar: „Zu Goldman Sachs kamen die intelligentesten Studenten der Welt (...) und dennoch konnten sie sich als absolute Blindgänger entpuppen, die noch im ersten Jahr wieder vor die Tür gesetzt wurden. Das passierte dauernd, denn das Urteilsvermögen ist nicht erlernbar.“ Smith verfügt offensichtlich über „Urteilsvermögen“ und betont im Laufe seines Rückblickes auf seine zwölfjährige Zeit bei GS immer wieder gern, wie wenige von denen, mit denen er als Analyst angefangen hatte, noch dabei waren.

Es waren ereignisreiche zwölf Jahre, die Smith bei GS durchlaufen hat. Seine Zulassungsprüfung am 11. September 2001 mußte aufgrund der Terroranschläge abgebrochen werden; er erlebte das Platzen der New-Economy-Blase, den Immobilienhype, die verheerende Finanzkrise 2008 und in London, wohin er vor seinem selbst gewählten Ausscheiden versetzt worden war, die Erschütterungen der Euro-Krise. Dessen ungeachtet stieg Smith bei GS die Karriere- und Gehaltsleiter hoch; er erhielt gute Beurteilungen und erschien sogar in einem 2006 gedrehten Image-Video.

In dieser Zeit vollzieht sich aber auch ein Kulturwandel in der Finanzbranche, die aus der Sicht von Smith zu einem Verfall jener Werte geführt haben soll, für die er glaubte einzustehen. Smith verbindet diesen Wandel mit dem Aufstieg von Blankfein zum GS-Chef. Mit dem Harvard-Absolventen soll der Grundsatz, daß die Interessen der Kunden an oberster Stelle zu stehen haben, bis zur Unkenntlichkeit erodiert worden sein. Welche Dynamik hinter diesem Kulturverfall steht, erläuterte Smith kürzlich in einem Deutschlandfunk-Interview: „In der Zeit zwischen 2002 und 2007 rechneten sich Goldman Sachs und andere Wallstreet-Banken aus, wie sie fünfmal soviel Geld in ihrem Handel verdienen könnten. Vieles hatte mit der umfangreichen Deregulierung in der ersten Hälfte des Jahrzehnts zu tun. Ab 2007 ging es im Handel nur noch darum, wie die Bank Geld machen konnte.“

Gemeint ist hiermit die Einsicht, daß eine Bank durch Eigenhandel, nämlich indem sie auf eigene Rechnung spekuliert und nicht mehr im Auftrag der Kunden agiert, deutlich mehr verdienen kann. Verdichtet findet sich dieser Kulturwandel in einer Schilderung in Smiths Buch, in der er beschreibt, wie er zu einer Vorgesetzen zitiert wird, die ihm folgendes mitzuteilen hat: „In Zukunft beschränke deine Kommunikation mit mir auf eine einzige E-Mail, in der du mir das Auftragsvolumen und unsere Gewinnspanne mitteilst.“

Daß GS bei einer derartigen Mentalität kein Problem darin sieht, „komplexe Derivate zu entwickeln, um europäischen Regierungen (...) zu helfen, ihre Schulden zu verstecken und ihren Haushalt gesünder aussehen zu lassen, als er wirklich war“, kann vor diesem Hintergrund nicht mehr überraschen. Für diese Finanzdienstleitung kassierte GS Hunderte von Millionen Dollar an Gebühren. Ein EU-Staat wie Griechenland konnte so vor zehn Jahren seine „Euro-Reife“ vorgaukeln und später seine Schuldenmisere eine Zeitlang kaschieren. Als dann im Herbst 2009 das wahre Ausmaß der griechischen Schuldenkrise öffentlich wurde, „zeigten wir Hedgefonds“, so schreibt Smith, „wie sie von dem Chaos in Griechenland profitieren konnten“. Gleichzeitig bemühte sich GS bei der Regierung in Athen um Beratungsaufträge, um den „Scherbenhaufen aufzuräumen“.

Auf die Frage, ob Gordon Gecko aus dem Film „Wall Street“ (JF 15/02) lebe, antwortete Smith: Absolut, die Branche sei „so nicht zukunftsfähig“. Deren Geisteshaltung sei sehr gefährlich: „Wetten soviel wie möglich, weil das System jederzeit zu Ende sein könnte“. Smiths Erinnerungen mögen für Kenner der Finanzdienstleistungsbranche „nichts Neues“ bieten, der Laie erhält aber aufschlußreiche Einblicke hinter die Kulissen einer abgeschotteten Welt, deren Eruptionen ganze Staaten in den Abgrund reißen können.

Informationen zu den politischen Goldman-Sachs-Aktivitäten bietet „LobbyControl“: www.lobbypedia.de 

Greg Smith: Die Unersättlichen – Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, gebunden, 368 Seiten, 19,95 Euro

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