© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/12 23. November 2012

Wenn alles aus dem Ruder läuft
Alltagswirklichkeit: Lutz Hübners Theaterstück „Was tun“ im Schauspielhaus Dresden bietet Szenenfolgen großstädtischen Lebens
Uwe Ullrich

Die letzten Inszenierungen von Lutz Hübners Stücken entwickelten sich in der sächsischen Residenz- und Hauptstadt Dresden zum Publikumsrenner. Nach einem Kalenderjahr feierte „Frau Müller muß weg“ den 50. Bühnenaufzug, und „Die Firma dankt“, im Januar 2011 uraufgeführt, ist ebenfalls immer sehr gut besucht. Was erwartet den Theaterbesucher in der Aufführung von Lutz Hübners neuem Stück „Was tun“? Ein Gegenwartsstück als szenische Folge.

Mit Beginn der Inszenierung unter der Regie von Barbara Bürk fühlt sich der Theaterkenner an Arthur Schnitzlers „Der Reigen“ erinnert; ebenso muß er an zwei Bücher mit dem gleichen Titel wie das Stück denken: Lenins politisches Pamphlet und Tschernischewskys Roman. Lutz Hübner kommt allerdings ohne jede historische Anleihe aus, sein neues Stück hat mit diesen Assoziationen nichts zu tun, ist ganz dem Hier und Heute verbunden.

Samstagabend. In einer Stadt. Verschiedene Begegnungen veranschaulichen einen gewöhnlichen Tag, Alltagswochenende: Gäste treffen sich in einem literarischen Salon, zwei befreundete Ehepaare trinken Wein im eigenen Heim, ein Gewerkschaftsfunktionär erwartet Journalisten zur Pressekonferenz, ein Pärchen besucht den Swingerclub, ein Sohn verteidigt seine Mutter gegen Ungerechtigkeit (…) Also, nichts Ungewöhnliches. Überraschende Wendungen lassen Menschen einander treffen, die sich sonst nie begegnet wären.

Der Prolog zum Theaterstück findet im Konferenzraum statt. Mittig stehen zwei Spinde, die als Türen fungieren. Handygeklingel. Statisch bleibt der Raum, in wechselnde Lichtpunkte getaucht, die Erzählstränge sind fließend wie die Übergänge. Der Spannungsbogen birst, wenn ineinandergeschobene Szenen in einfachen Fragestellungen grundsätzliche Antworten herausfordern oder sich einer der Protagonisten brüskiert fühlt.

Eine Szene: Die Mäzenin Sibylla (Hannelore Koch) und Ehemann Edgar (Albrecht Goette), Richter im Ruhestand, haben zur Party eingeladen. Zu Gast sind neben dem Sprecher und Schöngeist Hanno (Christian Erdmann), der seine lyrischen Ergüsse nicht vor Ignoranten rezitieren will, auch dessen homosexueller Freund und Auftrittsvermittler, der Journalist Richard (Holger Hübner). Dieser ist schon lange des Freundes überdrüssig, fühlt sich aber wie immer dem „Künstler“ verpflichtet. Nach einem hitzig geführten Streit flieht dieser, landet in einem Swingerclub und erlebt sein amüsantes „Blaues Wunder“ mit einem zerstrittenen Pärchen.

Oder: Der pensionierte Gewerkschafter Karl (nochmals Albrecht Goet-
te) ist empört und will sofort helfen, Unrecht aus der Welt zu schaffen und die Entlassung der Altenpflegerin Bine (nochmals Hannelore Koch) öffentlich bekannt machen. Eine Pressekonferenz ist einberufen. Kein Journalist kommt. Aber die Zeitungspraktikantin Luise (Ines Marie Westernströer) rettet in letzter Minute das Zusammentreffen. Es rührt am Herz, wenn Karl am Bühnenrand sitzt, sich unverstanden, und neben ihm Luise sich unterschätzt fühlt.

Freundlicher Applaus verabschiedet die Protagonisten dieses Schauspielhausabends in die Samstagabendnacht. Ein Alltagswochenende? – Ja. Aber die lose gefügte Szenenfolge fordert unweigerlich vom Publikum, eigene Erfahrungen mit dem Bühnengeschehen zu vergleichen. Kennen wir persönliche Demütigungen? Stellen wir uns wie einige Protagonisten selbst in Frage? Werten wir uns gelegentlich zu sehr auf oder biedern wir uns bei den Falschen an? Wie weit geht unsere Toleranz und wieviel fordern, wieviel erwarten wir von dem anderen?

Nachdem sich Hübner in seinen vorherigen Stücken Themen wie dem Schul- und Arbeitsweltalltag zuwandte, nahm er dieses Mal Partnerbeziehungen ins Visier. Vermutlich wird auch diese Inszenierung in Dresden ein Publikumsmagnet. Nicht ohne Grund listete der Deutsche Bühnenverein den 1964 in Heilbronn geborenen Lutz Hübner 2010/11 auf Platz zehn der meistgespielten Autoren in Deutschland. „Es ist eine Ermutigung, sie gibt einem bei allen Zweifeln immer wieder einen Ruhepunkt. Für die praktische Arbeit hat es aber keine Bedeutung“, sagt Hübner dazu.

Was macht seinen Publikumserfolg aus? Immerhin erlebten 38 Stücke von ihm in 18 Jahren ihre Uraufführung. Viele entstanden unter der Mitwirkung von Koautorin Sarah Nemitz. Erfolgreich ist Hübner, weil seine Darstellung sich erlebter Wirklichkeit annähert und verallgemeinert. Er ist Theoretiker und Praktiker: Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Soziologie folgte eine Schauspielausbildung. Anschließend sammelte er an Theatern Erfahrungen. Seit 1996 lebt er als Autor und Regisseur in Berlin. Der Stückeschreiber befindet sich gefühlsmäßig oft im Selbstzweifel. „Das Gefühl zu haben: Ich bin zufrieden, das ist genau das, was ich wollte – das gibt es nicht.“

Die nächsten Vorstellungen von„Was tun“ im Schauspielhaus Dresden, Theaterstraße 2, finden statt am 23. November, 8. und 28. Dezember, jeweils um 19.30 Uhr. Kartentelefon: 03 51 / 49 13–555 www.staatsschauspiel-dresden.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen