© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/12 23. November 2012

Nach der Eroberung kam der Kulturschock
Die Histroikerin Barbara Stelzl-Marx hat eine profunde Untersuchung über die sowjetische Besatzungszeit in Österreich von 1945 bis 1955 vorgelegt
Reinhard Liesing

Es dunkelte bereits, da aus mehr als 300 Artilleriegeschützen Salut geschossen ward. Nach der Kanonade erhellte Feuerwerk den Abendhimmel über dem Moskauer Kreml. Am 13. April 1945 ließ Diktator Josef Stalin seine Untertanen wissen, daß die Rote Armee Wien erobert hatte. Als am 7. Mai in Reims und am 8. Mai 1945 die deutsche Armeeführung im sowjetischen Hauptquartier Berlin-Karlshorst kapitulierte, war in der „Ostmark“, als die Österreich seit dem „Anschluß“ an das nationalsozialistische Deutschland 1938 galt, bereits seit vier Wochen der Zweite Weltkrieg zu Ende. Am 27. April 1945 – der gebürtige Österreicher Hitler lebte noch – hatte die Provisorische Staatsregierung unter dem Sozialisten Karl Renner, den Stalin hatte suchen lassen und der sich dem Sowjetdiktator zugleich selbst empfohlen hatte, bereits die Wiedererrichtung der Republik Österreich ausgerufen.

Diese erwies sich zunächst als ein Heerlager alliierter Siegertruppen: Anfang Mai 1945 befanden sich 700.000 Rotarmisten und Soldaten aus den Vereinigten Staaten, aus Großbritannien und Frankreich auf österreichischem Boden. Zudem bevölkerten in der ersten Phase der Besetzung Vertriebene, ehemalige Kriegsgefangene, Zwangsverschleppte, Fremdarbeiter und in Gefangenschaft geratene Wehrmachtssoldaten, insgesamt gut drei Millionen Menschen, das in vier Besatzungszonen aufgeteilte Österreich; bei einer einheimischen Bevölkerung von sechs Millionen.

In ihrer Besatzungszone, den heutigen Bundesländern Niederösterreich, Burgenland und einem Teil der Steiermark – die Hauptstadt Wien stand wie Berlin unter einem gemeinsamen Kontrollrat –, stellten die 400.000 Rotarmisten die größte Besatzungsmacht dar. Diese Truppenstärke wurde bis Jahresbeginn 1946 auf 150.000 Mann reduziert, ein Bestand, der bis zum Tode Stalins 1953 ungefähr beibehalten und bis zum Staatsvertrag 1955 – und damit dem Abzug – auf 40.000 zurückgeführt wurde. Daneben gehörten Familienangehörige von Offizieren, Geheimdienstler, Dolmetscher sowie „Spezialisten“ zu den diversen Einrichtungen des Besatzungsapparats. Der sah sich vor enorme Probleme gestellt. Eindringlich mahnte die Militärführung, „den Versuchungen des Lebens zu widerstehen“ und sich „in gebührender Weise“ zu benehmen.

Kommandeure und Offiziere hätten „allzeit daran zu denken, daß man Repräsentant der Roten Armee der großen Sowjetunion“ sei. Marschall Iwan Konjew, Oberbefehlshaber der Zentralen Gruppe der Streitkräfte, sah sich im September 1945 veranlaßt, eine Weisung zu erteilen, mit der den wunden Punkten der Armee während ihres Besatzungsdienstes entgegengewirkt werden sollte; als da waren: Einhaltung der Disziplin; Tragen der vorgeschriebenen Uniform; Exerzieren; Unterbinden des Marodierens und der illegalen Beschlagnahme österreichischen Eigentums; Ahndung von Schwarzmarktgeschäften; Verbot des Besuchs von Volksfesten, Nachtlokalen, Cafés und – insbesondere für Unteroffiziere sowie Mannschaftsdienstgrade – von Gaststätten mit Alkoholausschank.

Anlaß dazu bestand mehr als genug: Plünderungen und Vergewaltigungen erschwerten den „Kampf um Einfluß auf die Masse der Bevölkerung“. Nicht nur das Ansehen der Armee, sondern der Sowjetunion stand auf dem Spiel. Politische Schulung, interne Kontrolle und die Bestrafung „moralisch zersetzter“ Militärangehöriger sollten das weitverbreitete negative „Russenbild“ korrigieren. Schwerwiegend waren zudem Fälle von Desertion und damit einhergehender Folgeverbrechen.

All das entnimmt man dem voluminösen Werk der Grazer Historikerin Barbara Stelzl-Marx, der stellvertretenden Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung. Dieses ist durch seine Forschungen über die bislang am wenigsten zugänglichen Teile des Sowjetsystems weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt geworden. Sie liefert in dieser profunden Untersuchung, in die eine ungeahnte Fülle an Dokumenten und Materialien aus russischen Archiven eingeflossen sind, ein umfassendes und zugleich detailreiches Bild der sowjetischen Besatzung in Österreich. Denn trotz zahlreicher aktenkundig gewordener österreichischer Berichte über „Vorfälle mit Männern in Uniform“ war über den „sowjetischen Alltag in Österreich“ wenig bekannt.

Gefechtsübungen und Sport machten den Großteil des Alltags sowjetischer Besatzungssoldaten aus. Vor allem die unteren Dienstgrade waren einem strikten Reglement unterworfen. Die Pflege von Ausrüstung und Kleidung sowie das Sauberhalten der Unterkünfte gehörte ebenso zu den wiederkehrenden Pflichten wie das Absolvieren nahezu täglich angesetzter politischer Schulungen. Als Massenbehausungen waren ehemalige Kasernen der Wehrmacht und vormalige Kriegsgefangenenlager ebenso herangezogen worden wie beschlagnahmte Häuser, Klöster, Schlösser und Schulen. Die Einquartierung in Privatwohnungen kam nahezu ausnahmslos höheren Dienstgraden zugute.

Zu welcher Rücksichtslosigkeit Requirieren und Beutemachen – die Konfiskation Hunderter Betriebe und die Demontage von Anlagen ließ 31.000 Waggonladungen gen Moskau rollen – bisweilen führte, machen Geheimdienstberichte zum Thema „Plünderung der Wohnung von Minister Fischer“ deutlich. Sie legen offen, daß die „Befreier vom faschistischen Joch“ nicht einmal vor dem Eigentum „befreiter“ einheimischer Kommunisten haltmachten. Das bekam just KPÖ-Funktionär Ernst Fischer zu spüren, Staatssekretär in der ersten Allparteien-Regierung, zu dessen Personenschutz NKWD-Leute abgestellt waren. Den ranghohen Wiener KPÖ-Mann bewahrte das jedoch nicht davor, daß ein sowjetischer Offizier seine Wohnung leerräumte. Möbel, Teppiche, Kleidung – selbst Unterwäsche –, Fahrrad, Radio und Schreibmaschine ließ er abtransportieren und – nach Protest des „Genossen Minister“ bei der Kommandantur – nur einen Teil des „Beuteguts“ zurückbringen.

Der Roten Armee, deren zunehmende Zahl von Disziplinlosigkeiten Moskau in Sorge versetzte, machte neben anderem vor allem die „Trunksucht“ zu schaffen. Drei Monate nach Kriegsende erging der Befehl, zu Feiertagen nicht mehr kostenlos Wodka auszuschenken. Im Herbst 1945 war in internen Berichten von „zunehmenden Alkoholexzessen“ die Rede. Und schon am Ende des ersten Besatzungsjahres gestand die Militärführung ein, was dem Ruf ihrer Armee überall dort, wo sie stand, bis heute anhängt: „Die Grundlage beinahe sämtlicher Verbrechen bilden Saufereien und Verbindungen zu einheimischen Frauen, mit allen damit einhergehenden Folgen“, heißt es in einem Geheimdienstbericht von April 1946.

Der soldatische Dienst, auch in der Besatzungstruppe, war ein Dasein ohne Frau und Familie; lediglich Generäle und höhere Offiziere hatten das Privileg, ihre Familien in besetzte Gebiete nachkommen zu lassen. Intime Beziehungen über die ehedem feindlichen Linien hinweg gab es in allen Besatzungszonen. Zwar stießen „Russenliebchen“ in Österreich auf Ächtung, auch sah die Militärführung „gefährliche Werkzeuge westlicher Geheimdienste“ in ihnen, ließ etliche wegen Spionage in Moskau erschießen und verbot generell die Verehelichung mit einer Ausländerin. Gleichwohl ist es in hoher Zahl zu sexuellen Kontakten sowie zu – ungefähr 20.000 – „Russenkindern“ gekommen; nicht nur, aber vornehmlich infolge Vergewaltigung.

Laut Stelzl-Marx dürften 270.000 Frauen von Rotarmisten vergewaltigt worden sein; nicht wenige mehrmals: 240.000 in Wien und Niederösterreich, 20.000 im Burgenland; und im sowjetisch besetzten Teil der Steiermark erlitten nach amtlichen Aufzeichnungen 10.000 Frauen dieses Schicksal. Vom jugoslawischen KP-Funktionär Milovan Djilas darauf angesprochen, bagatellisierte Stalin: „Kann er nicht verstehen, wenn ein Soldat, der durch Feuer und Blut gegangen ist, an einer Frau seine Freude hat?“

Gleichwohl sind keine russischen Belege für Berichte aktenkundig, wonach Stalin aus Anlaß der Maifeiern 1945 den Soldaten erlaubt haben soll, drei Tage lang zu plündern und zu vergewaltigen. Formell stand auf Vergewaltigung die Todesstrafe. Während der Besatzung wurden – so man Vergewaltigern überhaupt habhaft wurde – jedoch üblicherweise nur fünf Jahre Besserungslager verhängt; „Soldaten mit guter Kampfbilanz“ kamen sogar mit zwei Jahren davon.

Die meisten Soldaten fielen während der Besatzungszeit indes einer Art Kulturschock anheim. Typisch dafür ist der Fall des jungen Offiziers Michail Schilzow. Gegenüber seinen Kameraden befand er, die Sowjetunion werde „Europa niemals ein- und überholen können“; denn in Österreich gebe es „in jedem Haus Strom, während die Dörfer in meiner Heimat vermutlich nie elektrifiziert werden“. Auch fänden sich „Lüster, luxuriöse Häuser, Kleidung, während meine Familie Hunger leidet und nichts anzuziehen hat“, konstatierte der Desillusionierte. Derartige „Lobpreisungen der kapitalistischen Ordnung“ konnten nicht ungestraft bleiben: Der 27 Jahre alte Leutnant wurde seines Ranges und seiner militärischen Funktion enthoben, unehrenhaft aus der Armee entlassen und aus der KPdSU ausgeschlossen. Die politische Abteilung seiner Einheit klärte seine Kameraden über die „Gefährlichkeit der Aussagen Schilzows“ auf: Man wertete seine Zweifel an der „Überlegenheit des Sowjetsystems“ als „Folge seines mangelhaften politischen Wissens und seiner ideologischen Zurückgebliebenheit“.

Moskau spannte mit Beginn der Besatzung ein geheimdienstliches Netz über österreichisches Terrain. Die Grenztruppen des Volkskommissariats respektive Ministeriums für Innere Angelegenheiten (NKWD/MWD) waren nicht nur für „Säuberungen“ im Besatzungsgebiet zuständig, sondern bespitzelten auch die eigenen Militärangehörigen. In großangelegten Razzien nahmen sie „feindliche Elemente“ sowohl unter der Bevölkerung als auch unter den Rotarmisten fest. Die Militärkommandanten waren verpflichtet, der Gegenspionageorganisation „Smersch“ (wörtlich: „Tod den Spionen“) „verbrecherische Elemente“ zu übergeben. Damit war ihnen der Gulag sicher, zwischen 1950 und Stalins Tod verschwanden mehr als tausend auf Nimmerwiedersehen ins Moskauer Butyrka-Gefängnis, wo man sie erschoß, ihre Leichname verbrannte und die Asche einem anonymen Massengrab anheimgab.

Was die Historikerin Stelzl-Marx zur Besatzung Österreichs 1945 bis 1955 aus bisher unzugänglichen Moskauer Akten ans Licht gefördert und zu einem beeindruckenden Kompendium aufbereitet hat, stellt einen Meilenstein der Zeitgeschichtsforschung dar. Dabei bietet jener Teil ihres Opus, den sie der sowjetrussischen Erinnerungskultur widmet, seine besonderen Reize. Fotos von Soldaten, die das ihnen Fremde ablichteten, stehen neben professionellen Propaganda-Dokumentarfilmen, die den Kriegs- und Eroberungserfolg der Rotarmisten für die Ewigkeit festhalten sollten. Texte in Soldatenzeitungen sorgten nachhaltig für das von Moskau erwünschte Bild von der Besatzung.

In ihrer Analyse herangezogener Erinnerungsträger – auch von Tagebüchern und Oral-History-Daten – kommt sie zu dem Schluß, daß das Österreich-Bild der Rotarmisten durchweg positiv ausfiel. Besonders prägnant hat die Verfasserin in ihrem Buch, das über ein Register zu erschließen ist, indes das Empfinden vieler sowjetischer Soldaten und Zivilisten herausgearbeitet, daß sich die – trotz Folgen des verheerenden Krieges auch in Österreich – vorgefundenen Lebensbedingungen drastisch von jenen in der Sowjetunion unterschieden und naturgemäß vom Bild, das ihnen von Stalins Propagandamaschinerie jahrelang eingetrichtert worden war. Diese Diskrepanz zwischen fremdländischem und heimatlichem Lebensstandard empfanden nicht wenige Sieger als Niederlage – mitunter auch als persönliche.

Barbara Stelzl-Marx: Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955. Oldenbourg Verlag, München 2012, broschiert, 864 Seiten, Abbildungen, 49,80 Euro

Fotos: Sowjetische Soldaten im Mai 1945 vor der Karlskirche (o.) und dem Parlament (l.) in Wien: 31.000 Waggons mit Beutegut rollten gen Moskau; Rotarmist über den Dächern Wiens 1945: „In jedem Haus gibt es Strom, während die Dörfer in meiner Heimat wohl nie elektrifiziert werden“

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