© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/12 23. November 2012

Der Flaneur
Unruhiges Wandern
Cassian Heidt

Am Ende der kleinen Insel thront Friedrich Silcher. Man sieht ihn schon früh beim Gang durch die alte Platanenallee in ruhiger Würde emporragen. Das rote Graffito auf seinem steinernen Umhang kümmert ihn nicht, und der Zahn der Witterung zaubert ein Lächeln in seine strengen Gesichtszüge. Die Platanen ächzen unter dem Gewicht des fauchenden Windes, der ihre gelblichen Blätter in die Lüfte treibt. Ein letzter wilder Tanz, dann fallen sie ermüdet zu Boden. Der Herbst kam schnell und grausam. Er legt dichten Nebel über seine Spur, damit der Winter ihn nicht so schnell finden kann.

Auf der Allee am Neckar wandeln getriebene Gestalten durch die frühe Dämmerung. Schon Rilke wußte, daß dies die letzte Möglichkeit ist, sich ein Haus für die kommenden Stürme zu bauen. Also sucht man, schnell und verzweifelt, einen Partner für die dunklen Tage, die nun bevorstehen. Sie drehen eine kleine Runde durch die Allee, forschen verbissen nach Gemeinsamkeiten, die den Gang Hand in Hand rechtfertigen könnten. Du magst karierte Schals? O wie schön, ich auch. Das muß reichen für einen Winter. Aber die Liebe zwingt all uns nieder, wispert es aus dem Hölderlinturm herüber.

Im Frühjahr, wenn man wieder die langen Mäntel gegen kurze Röcke und Glühwein gegen Caipirinha tauschen kann, dann wachen auch die Murmeltiere aus ihrem langen Schlaf auf. Verdutzt reiben sie sich die Augen, und das Winterhaus wird nach dem Erwachen zu eng für helle Sonnentage. Dann trifft man sich zum letzten Mal auf der kleinen Insel, läuft mit starrem Blick gen Boden ihre Ränder ab. So wird es Zeit für das Abschiedsritual. Es war eine tolle Zeit. Ja. Aber wir müssen uns jetzt alleine weiterentwickeln. Ja. Die Tränen nicht vergessen.

Der eine geht da lang, der andere dort. Das bezeichnet man heute ganz locker als Trennung. Nur Silcher bleibt an seiner Stelle. Mit einem leichten Lächeln und dem roten Graffito am Mantel überschaut er von seinem Thron die Szene. In stiller Höflichkeit denkt er sich seinen Teil.

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