© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/12 30. November 2012

Hitlers Erben und die Gewalt der Flammen
Die Lichterkette als massenpsychologische Reaktion auf rechtsextremistischen Anschlag auf Türken in Mölln im Herbst 1992
Thorsten Hinz

In der Nacht vom 22. auf den 23. November 1992 war die Feuerwehr der schleswig-holsteinischen Stadt Mölln im Großeinsatz. Zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser standen in Flammen, in Brand gesetzt durch Molotowcocktails. Zwei Mädchen, 10 und 14 Jahre alt, und ihre Großmutter starben. Es gab mehrere Schwerverletzte. Als Tatverdächtige wurden eine Woche später der 25jährige Michael Peters und der 19jährige Lars Christiansen namhaft gemacht und einem rechtsextremen Bekenneranruf zugeordnet. Sie gehörten der Skinheadszene an und besaßen für die Tatzeit kein Alibi. Im April 1993 begann der Prozeß vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht, der im Dezember mit einer Verurteilung wegen dreifachen Mordes und siebenfachen versuchten Mordes endete. Peters erhielt eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, Christiansen eine Jugendstrafe von zehn Jahren.

Ihre Verurteilung war zunächst alles andere als sicher. Eindeutige Beweise gab es nicht. Die Anklage stützte sich vor allem auf die Geständnisse, die beide in den ersten Vernehmungen abgelegt hatten. Das war allerdings auch ihr Schwachpunkt. Die Verhöre waren weder mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet worden, noch war ihr genauer Wortlaut schriftlich protokolliert. Die Angeklagten widerriefen die Geständnisse. Peters gab an, er habe gesagt, was man von ihm hören wollte. Christiansen behauptete, er sei mit der Drohung erpreßt worden, ihn in eine Zelle mit Ausländern zu stecken, die ihn vergewaltigen würden. Er bekundete sein „gutes, reines Gewissen, daß ich es nicht war“. Dem Vertreter der Bundesanwaltschaft schrie er zu: „Die Wahrheit können Sie nicht verfälschen. (...) Sie werden sich eines Tages verantworten müssen, wenn nicht auf Erden, dann im Himmel.“

Im Mai 1993 folgte in Solingen ein weiterer Brandanschlag auf ein Haus mit türkischen Bewohnern, der mehrere Tote forderte. Für die Tat wurden ebenfalls Angehörige der Neonazi-Szene verurteilt, überwiegend Halbdebile. Die anderen bestreiten die Tat bis heute. Der Solingen-Anschlag hatte atmosphärische Rückwirkungen auf den Mölln-Prozeß. Der Gerichtsvorsitzende äußerte die Sorge, daß der Prozeß mit sachfremden Erwartungen überfrachtet würde und gestand ein, daß ihm das „Angst macht“. Staranwalt Rolf Bossi, der Christiansen vertrat, legte die Verteidigung nieder, weil er keine Möglichkeit mehr für eine sinnvolle Verteidigung sah. Das Gericht, so sein Eindruck, sei zur Verurteilung seines Mandanten fest entschlossen. Christiansens Einlassung, durch Androhung sexueller Gewalt zum Geständnis erpreßt worden zu sein, wurde zurückgewiesen.

Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Artikel aus der Wochenzeitung Die Zeit vom April 1994, in dem ein Polizeibeamter sein zweistufiges Vorgehen gegen rechte Skinheads im nördlichen Umland von Hamburg erläuterte. Zunächst erklärte er ihnen: „Paßt auf, Jungs, daß da nichts ins Rollen kommt, was euch erdrückt. Der Osten ist weg, und der Verfassungsschutz sucht Arbeit ...“ Nachdem das nicht half, stellte er den Betreffenden eine Haftstrafe vor Augen: „Wenn es dann soweit ist, gehst du am besten zu Aldi, holst dir eine Packung Tampons, Penatencreme und Korken – im Knast wirst du nämlich erst einmal zugeritten.“ Christiansen wurde nach acht, Petersen nach 14 Jahren aus dem Gefängnis entlassen.

Eindeutiger als die polizeiliche und juristische Klärung waren die gesellschaftlichen und politischen Folgen. Die Medien im In- und Ausland interpretierten den Anschlag als ein Fanal der neonazistischen Gefahr, die aus dem wiedervereinten Deutschland drohe. Laut dem Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele, der im Mölln-Prozeß als Nebenkläger auftrat, hatten die Angeklagten „ganz deutlich zum Ausdruck (gebracht), daß sie der Auffassung waren, die Stimmung in der Bevölkerung steht hinter ihnen, und daß das sie zu ihren Taten veranlaßt hat. Deshalb denke ich, da ist eine ganz erhebliche politische und moralische Mitschuld der Leute, die diese Stimmung hier im Land angeheizt haben.“

Ströbele sprach für das linke, linksliberale und antinationale Milieu, das peu à peu die kulturelle Hegemonie in der Bonner Republik erobert hatte und sich durch den Mauerfall um die zum Greifen nahe politische Macht betrogen fühlte. Die Wiedervereinigung hatte diese Szene in Desorientierung und Depression gestürzt. Der Anschlag von Mölln bot die Gelegenheit, wieder in die Offensive zu gehen.

Ströbele spielte auf die Diskussion über den Asylparagraphen im Grundgesetz an. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks ergoß sich ein ungebremster Zustrom von Asylanten – zeitweise 500.000 im Jahr – über die offenen Grenzen. SPD und Grüne zögerten die notwendige Verfassungsänderung hinaus und ließen so die Konflikte eskalieren. Die chaotische Ausländerpolitik wurde auf die neuen Bundesländer übertragen, ohne Rücksicht auf den sozialen Dauerstreß dort. Das führte in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen zu gewalttätigen Eruptionen. Doch erst der Brandanschlag von Mölln – das an der ehemaligen Zonengrenze im Westen lag – verfügte über die Fanal-Qualität.

Mölln markiert den Beginn der Stimmungswende. Eine Pressekampagne ohnegleichen, eine Welle von Kundgebungen, Demonstrationen und Mahnwachen rollte über das Land und steigerte sich zur Massenhysterie. Heribert Prantl veröffentlichte ein Buch „Deutschland – leicht entflammbar. Ermittlungen gegen die Bonner Politik“. Der Publizist Ralph Giordano – der sich heute über das Vordringen des Islams erregt –, forderte, die Ausländer sollten sich „zu ihrem Schutz vor deutschen Nazis“ bewaffnen. Die Antifa-Szene sah sich zu Gewalttaten legitimiert, radikale Ausländer zur Selbstjustiz. Kurz nach dem Anschlag von Mölln, am 2. Dezember 1992, überfielen im Problemstadtteil Osdorfer Born in Hamburg fünf Türken zwei Deutsche, in denen sie „Rechte“ vermuteten, und stachen dem einen eine sieben Zentimeter lange Messerklinge in den Rücken. Tartarenmeldungen über oft frei erfundene Neonazi-Überfälle häuften sich.

Das bürgerliche Lager, soweit es noch existierte, fiel in Schockstarre oder stimmte in die Hysterie ein. Die mit dem Mauerfall aufgekeimte Hoffnung, Deutschland würde sich aus dem Schatten des Hitler-Vorbehalts lösen, war dahin. Die Nachlaßverwalter des Dritten Reiches hatten das Land wieder im Griff und vermerkten wohlgefällig, daß es auch vom Ausland erneut auf die Resozialisierungsliste gesetzt wurde.

Den Höhepunkt erreichte die Stimmung in den Lichterketten gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Neonazismus. Die größte fand am 6. Dezember 1992 in München mit 400.000 Teilnehmern statt. Die tiefen- und massenpsychologischen Motive dieses archaischen Rituals waren bestimmender und interessanter als der offizielle Zweck. Elias Canetti zählte das Feuer zu den im Unbewußten verankerten Massensymbolen. Es löst gegenläufige Bewegungen aus, die eine dialektische Einheit bilden. Am Anfang steht die Massenangst vor der Gewalt der Flammen, die zur Flucht treibt. Ist die akute Panik überwunden, eilen die Menschen an den Schauplatz des Brandes zurück, um dort etwas „von der leuchtenden Wärme (zu spüren), die sie früher einte“.

Die Lichterketten waren eine exklusive Angelegenheit der Westdeutschen, die schmerzhaft begriffen, daß Mauerfall und Wiedervereinigung auch ihnen die alten Gewißheiten geraubt hatten. Es ging nicht nur um das Asylproblem. Die Erwartung der Nato-Verbündeten, Deutschland solle sich in irgendeiner Weise am Golfkrieg 1991/92 beteiligen, hatte einen tiefen Schock und eine Bewußtseinskrise hinterlassen. Nun fanden die Verängstigten sich bei passender Gelegenheit zur wärmenden Bevölkerungsgemeinschaft zusammen, die ihre innen- und außenpolitische Lage zwar nicht durchschaute, aber eine Ersatzsicherheit in dem Endkampf gegen den Nazi-Teufel fand.

Den Hintergrund bildete die magische Erwartung, sich vor einer – wie auch immer gearteten – höheren Instanz zu bewähren und damit von den Herausforderungen des politischen Schicksals freizukaufen. Die Lichterketten waren eine neue Stufe in der Ästhetisierung des politischen Dämmerzustands, welchen nach vierzig Jahren staatlicher Nichtsouveränität die BRD-Bürger mit ihren Brüdern und Schwestern der DDR teilten.

Die Befreiung aus dieser Verschattung hat der Anschlag von Mölln blockiert. Er blockiert sie bis heute.

Foto: Eine Woche nach der ersten großen Lichterketten-Demonstration beteiligen sich am 13. Dezember 1992 etwa 250.000 Menschen an der „Kundgebung gegen Ausländerhaß und Gewalt“ vor dem Hamburger Rathaus: „Deutschland – leicht entflammbar“

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