© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/12 30. November 2012

Restaurator der zerfallenen Gemeinschaft
Probebohrungen am theologischen Fundament von Walter Kempowskis Werk
Norbert Hahne

Zu Walter Kempowskis literarischen Hausgöttern gehörten neben Goethe und Thomas Mann, deren Porträts überm Schreibtisch hingen, Arno Schmidt, Marcel Proust, James Joyce, Theodor Fontane und Gottfried Keller. Gemeinsam ist diesen Vorbildern ein mehr oder minder stark ausgeprägter antireligiöser Affekt. Als militanter Atheist ist der 1979 verstorbene Arno Schmidt, dem Kempowski einen geradezu liebevollen Nachruf in der Zeit widmete, noch in guter Erinnerung. Goethe war ein „alter Heide“, Thomas Mann akzeptierte erst im Alter das Christentum im Schrumpfformat „kultureller Errungenschaft“, und die „Fortschrittsmänner“ von 1848, Fontane wie der an Feuerbachs Religionskritik geschulte Keller, gehen gleich Joyce und Proust günstigenfalls als Agnostiker durch.

Will man jüngsten Studien zum theologischen Fundament von Kempowskis Autorschaft folgen, so muß sich der Einfluß solcher Vorbilder jedoch auf das poetische Handwerk des „deutschen Chronisten“ beschränkt haben, der wie Proust mikroskopisch nach der verlorenen Zeit suchte und sich wie der Bargfelder Eremit zum Meister detailversessener Collagetechnik ausbildete. So eifrig wie sich die seit dem Tod des Autors im Oktober 2007 ordentlich Dampf machende Kempowski-Philologie indes mit dem Aufweis solcher Wahlverwandtschaften, mit technologischen Fragen der Textproduktion, mit Motiven und Formen beschäftigte, so treffsicher verfehlt sie das eigentliche, nämlich religiöse Anliegen seiner monumentalen Textmontagen. Auch die Komparatistik, die den Nartumer Archivar in der Gegenwartsliteratur verortet, sich mit zumeist moralisierenden Versuchen abmühte, die Rostocker Familiengeschichte wie das „Echolot“ als Beitrag zur deutschen „Erinnerungspolitik“ zu verstehen, kommt diesem Ansinnen nicht nahe. Dieser implizite Vorwurf ergibt sich zumindest aus den ungemein scharfsinnigen Analysen, die der Germanist Kai Sina Kempowskis Lebenswerk unterzieht.

Das Resultat dieser akribischen Sondierungen preßt der Klappentext des Wallstein Verlages in die griffige Formel, Sina liefere mit dem Anspruch Kempowskis, die „historische Schuld der Deutschen im Nationalsozialismus abtragen“ zu wollen, den Generalschlüssel zum Verständnis seiner Romane, Tagebücher und Collagen. Aber so platt, wie das linksliberale Wallstein-Lektorat diese Göttinger Dissertation bewirbt, geht es bei Sina mitnichten zu. Denn „Schuld“ als mächtiger Schreibimpuls, als „Urknall schriftstellerischer Produktivität“ (Dirk Hempel) spielt für Kempowski zunächst nur eine Rolle als persönliche Schuld vor allem seiner Mutter gegenüber, für deren Verhaftung und lange Leidenszeit als politische Gefangene in sowjetzonalen Zuchthäusern er sich verantwortlich fühlte.

Die zweite Schuldebene, die deutsche „Kollektivschuld“, mußte er lange gar nicht betreten, da er bis 1956 selbst in Bautzen eingekerkert und somit den meisten Zumutungen der Umerziehung entzogen war. Erst nach der Freilassung, angeregt ausgerechnet durch den Göttinger Mediävisten Percy Ernst Schramm, als Kriegstagebuchführer im Oberkommando der Wehrmacht einst „Hitlers Thukydides“ (Erwin Panofsky), sei er durch das „schreckliche Ausmaß der Judenvernichtung“ (Hempel) nachhaltig erschüttert worden.

Und noch 1989, mitten in der Komposition des großen „Echolot“-Gesangs, notiert er im Tagebuch, vielleicht sei alles, was er bis dahin geschrieben habe, „eine Antwort darauf“. Ungeachtet solcher Akzentuierungen rückt Sina, der mit ähnlichen autobiographischen Kommentierungen nur einen kleinen Korb mit Belegen füllen kann, die zeitgeistfromme Verengung auf deutsche Schuld wohlweislich nicht in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Ist Kempowskis vielmehr auf einer dritten Ebene angesiedelter, maßgebender Schuldbegriff, bundesrepublikanisch formuliert, doch alles andere als „national verengt“, sondern „weltoffen“, universalistisch, nämlich identisch mit dem der christlichen Anthropologie, die dem Menschen, und zwar ausnahmslos allen Menschen, die Erbschuld aufbürdet.

Insofern trafen die Aufgeregtheiten des Schuldkults voll ins Schwarze, als sie sich schon bei den Romanen der „Deutschen Chronik“ und wütender dann bei den zehn Bänden des „Echolots“ über die nostalgische „Verharmlosung des Zivilisationsbruchs“ in Rage schrieben. „Von den Verbrechen der Nazis und von Konzentrationslagern und Millionen Toten“ erzähle „Tadellöser & Wolff“ nichts, greinte Walter Jens 1975 nach der Ausstrahlung der TV-Verfilmung dieses „bürgerlichen Romans“.

Jens, NSDAP-Anwärter seit 1942 und somit zum Moralhüter prädestiniert wie der SS-Mann Günter Grass, soufflierte derart Heerscharen von Feuilletonisten, die sich wie Götz Aly oder der von Sina zitierte Uwe Pralle – 1999 in der Frankfurter Rundschau – über „Relativierungen“ in der „Fuga furiosa“ ereiferten, die mit „neudeutscher Unbekümmertheit“ allen Opfern völlige Gleichheit zuteil werden lasse, „als sei zwischen dem Holocaust, den Gewalttaten der Roten Armee und dem britischen ‘area bombing’ keinerlei Unterschied mehr zu sehen“. Dieser auf Anfang 1945 konzentrierte Teil des „Echolots“ vermittle den provokativen Anschein, als müsse man „in Ostpreußen und Dresden die Opfer eines an den Deutschen begangenen Holocaust“ beklagen. Zehn Jahre später legte Klaus Köhler ein an Pralles Darlegungen geschultes, fast 500seitiges, paranoides Pamphlet („Alles in Butter“, Würzburg 2009) vor, das vor Martin Walser und Bernhard Schlink primär Kempowski als „Sachwalter einer schäbigen Apologie“ der schuldbehafteten „Volksgemeinschaft“ und als „literarischen Kompagnon Ernst Noltes“ denunzierte.

Die primitiven Attacken solcher „schrecklichen Vereinfacher“ (Kempowski), unter denen sich auch Marcel Reich-Ranicki („Ranitzki das Schwein“, wie es in einer Marginalie in der Nartumer Bibliothek heißt) einreihte, erreichen die „sinnzerlegende Vielfalt“ der Erlebnis- und Erfahrungswelten, das „direkte Nebeneinander von Schuldigen und Unschuldigen“, die „Multiplizität“ der Textmassen des „Echolot“ nicht im entferntesten. Sie erreichen schon gar nicht den religiösen Schuldbegriff, aus dem der mit dem Katholizismus liebäugelnde Protestant Kempowski das Postulat prinzipieller Verworfenheit des Menschen ableitet. Des Autors Glaube – seit der Vertreibung aus dem Paradies sind wir alle Sünder – ist, wie Sina klar herausarbeitet, die poetologische Grundlage für die „Einheit von Tätern und Opfern“ im kollektiven Tagebuch, in der sich die zivilreligiös dogmatisierte Exklusivität des jüdischen Opfers zum „Detail der Weltgeschichte“ (Jean-Marie Le Pen) zu verflüchtigen droht.

Als wäre dies im Urteil unserer geschäftstüchtigen „Mundwerksburschen“ (Arnold Gehlen), des von ihm verachteten „68er-Intellektuellenpacks“, nicht schon skandalös genug, so zielt Kempowski nach Sinas stimmiger Lesart zudem auf die aus dieser Optik weitaus ungeheuerlichere „kunstreligiöse“ Heilsperspektive, die zerstörte Welt, die zerrissene Zeit und die zerfallene Gemeinschaft im Medium literarischer Erinnerung zu restaurieren. Diese Wiederherstellungserwartung, diese Hybris einer Hoffnung auf „Re-Synthetisierung der kollektiven Einheit“, die Kempowskis Werk aktiviert, bewegt sich aber, wie Sina mit Verweis auf dessen weltanschauliche Anleihen beim romantischen Volksmythos richtig erfaßt, im Rahmen eines „lebendig-organischen Nationalzusammenhangs“.

In der von Sina unausgesprochenen Konsequenz steht mithin der erratische Block dieses titanischen Memorialprojekts unaufhebbar quer zur Gegenwart der multikulturellen Gesellschaft, da Fremden niemals die allein den Deutschen des Reiches und ihren Nachfahren vorbehaltene Erlösung durch Erinnerung zuteil wird.

Kai Sina: Sühnewerk und Opferleben. Kunstreligion bei Walter Kempowski. Wallstein Verlag, Göttingen 2012, gebunden, 282 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro

Foto: Walter Kempowski in seinem Haus beim Sichten von Fotos, Nartum im September 1981: Erlösung durch Erinnerung

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