© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/12 07. Dezmber 2012

Das System im Zettelkasten
Meister der Gesellschaftstheorie: Eine Erinnerung an den deutschen Soziologen Niklas Luhmann
Felix Dirsch

Woran erkennt man das Genie unter den Wissenschaftlern, das selbst bedeutende Fachkollegen auf die Plätze verweist? Wenn ein Gelehrter es schafft, auf der Basis nur weniger Vorläufer die Beschreibung eines hyperkomplexen Systems, genannt Gesellschaft, schlüssig, einleuchtend und in allen wesentlichen Facetten darzustellen.

Das Unternehmen „Theorie der Gesellschaft“, Stoff und Brot für mehrere universitäre Fakultäten, ist für einen singulären Meistertheoretiker einfach: „Dauer: 30 Jahre, Kosten: keine.“ So formuliert es Niklas Luhmann 1968, als er den Lehrstuhl für Soziologie an der eben erst gegründeten Reformuniversität Bielefeld übernimmt. 1998, kurz vor seinem Tod, kann er das Projekt für beendet erklären. Es ist vollauf geglückt. Die Gesellschaft ist bei sich selbst angekommen: als „Gesellschaft der Gesellschaft“, so einer der letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buchtitel. Ein langer Weg ist zurückgelegt.

Vor fünfundachtzig Jahren geboren, 1927, erlebte Luhmann als Angehöriger der Generation der „45er“ als junger Soldat noch den Krieg. Hier erfährt er, was später auf wissenschaftlicher Ebene von ihm Kontingenz genannt wird: Nicht er, sondern der Kamerad wird von der Granate getroffen. Die Befreier verprügeln den Gefangenen. Nach der Entlassung studiert er Jura und erledigt einige Jahre seinen Dienst in der höheren Verwaltung des Landes Nieder-sachsen. Der beruflich eher unbefriedigte Beamte nimmt ein Stipendium in den USA wahr und lernt die Systemtheorie in der Version von Talcott Parsons kennen, einem herausragenden Kopf dieser Disziplin. Nach seiner Rückkehr bekleidet er eine Stellung als Forschungsreferent. Unter den Fittichen von Helmut Schelsky erfolgen 1966 Promotion und Habilitation kurz nacheinander. Der außergewöhnlichen Karriere steht nichts mehr im Wege.

Was ist unter einem System zu verstehen? Extremistische Agitatoren linker wie rechter Provenienz propagieren stets das Ziel der Systemüberwindung. Der Analytiker Luhmann hingegen meint damit eine Weise der Annäherung an die Wirklichkeit. Während die ältere Systemtheorie das Ganze und seine Teile unterscheidet, differenziert er nach System und Umwelt. Jedes Teilsystem schließt einen spezifischen Code ein: Wirtschaft (etwas besitzen oder nicht), Religion (Transzendenz und Immanenz), Kunst (Schönheit und Häßlichkeit), Recht (Recht haben oder nicht), Politik (Machtbesitz oder nicht) und diverse andere. Zu allen dieser sozialen Sektoren existiert mindestens eine Monographie aus der Feder Luhmanns. Jedes System besteht aus Medien, die sich im Laufe der Zeit ausdifferenzieren. Am deutlichsten ist es vielleicht auf dem Felde des Ökonomischen: Zuerst existieren Naturalien als Tauschmittel, später (im weiteren Verlauf der Antike) Münzgeld, ab einem gewissen Zeitpunkt auch Papiergeld. Heute ist die höchste Form der Abstraktion erreicht: Der Großteil des Geldes ist weithin mit elektronischen Zeichen identisch.

Nehmen wir als triviales, aber einleuchtendes Beispiel für die Unterscheidung von System und Umwelt einen Künstler: Er selbst wird sein Werk stets nach subjektiv-ästhetischen Kriterien ausrichten. Alles Wirtschaftliche ist ihm im Grunde genommen fremd, äußerlich, damit Umwelt. Der Ökonom sieht das Künstlerische quasi von außen und bewertet es mit Hilfe des Geldes. Ein System ist danach von außen kaum zu steuern. Alle Systeme generieren sich selbst, sind in der Fachsprache also autopoietisch. Baut das enorm vielfältige System Gehirn eigene Zellen auf, so bringen diese Zellen wiederum Zellen hervor und so weiter. Sie grenzen sich notwendig gegen alle anderen Zellen ab, etwa Blutzellen, die ihnen äußerlich sind.

Wie zirkulär Kommunikation ist, aus deren operativ geschlossenen Prozessen nach Luhmann die Gesellschaft hervorgeht – übrigens nicht aus Menschen! – zeigt die Vernetzung der Kommunikationsstrukturen. Bis ins Detail sind die Medien (Zeitungen, Fernsehen, Rundfunk, Internet) miteinander verbunden, so daß kaum mehr zu eruieren ist, woher eine Information eigentlich kommt. Angesichts dieser feinen Verästelungen ist es nicht verwunderlich, daß die Beschreibung der Gesellschaft nur mittels Komplexitätsreduktion möglich ist.

Linken Weltverbesserern ist Luhmann, der nüchterne Beschreiber, stets ein Dorn im Auge, obwohl er sich nicht explizit als Konservativen bezeichnet. Er sieht die Welt zu jeder Zeit als gleich gut und gleich schlecht. Jürgen Habermas nennt seinen Konkurrenten einen „methodischen Antihumanisten“. Diese Titulierung trifft die Intention des Kollegen, bezeichnet dieser doch den Menschen als Umwelt des Systems, bestehend aus 20 Milliarden psychischen Systemen. Luhmann ist radikaler Konstruktivist. Das heißt, daß er auf Objektivität verzichtet. Unsere Begriffe können nur Begriffe überprüfen, nicht aber das, was man oft unreflektiert als äußere Wirklichkeit bezeichnet, zu der wir letztlich keinen Zugang besitzen.

Obwohl Luhmann schon zu Lebzeiten ein sehr umfangreiches Œuvre veröffentlichte, sind aus seinem Nachlaß etliche Bände erschienen, unter anderem „Die Politik der Gesellschaft“ und „Macht im System“. Die uferlose Sekundärliteratur – darunter ein jüngst erschienenes Luhmann-Handbuch im Metzler-Verlag – ist kürzlich durch Norbert Bolz’ Darstellung „Ratten im Labyrinth“ noch vermehrt worden. Sie zeigt, inwiefern Luhmanns Ansatz „Grenzen der Aufklärung“ markiert. Selbst über seinen legendären Zettelkasten, den er als Materialbasis für seine Studien nützt, liegt mittlerweile eine Untersuchung vor.

Studiert man Luhmanns oft dickleibige Wälzer, wird darin selten die Ironie deutlich, die in seinen Vorlesungen zu spüren war. Ein wenig ist sie im Theoriekonstrukt des „blinden Flecks“ gegenwärtig. Er bedeutet in nuce: Die eigene Blindheit kann man nicht sehen. Einen letzten archimedischen Standpunkt gibt es nicht, nur ein „Brett, das alle vor dem Kopf haben“ (Ernst Peter Fischer). Selbst Großtheorien enden manchmal mit Kinderweisheiten: Ich sehe was, was du nicht siehst.

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