© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/12 07. Dezmber 2012

Starb Raoul Wallenberg im Gulag von Workuta?
Eine hochkarätig besetzte Konferenz in Wien behandelte das Schicksal des schwedischen Diplomaten, der Tausende Juden in Ungarn 1944 vor der Deportation rettete und später in sowjetischem Gewahrsam umkam
Reinhard Liesing

Wir kennen Raoul Wallenberg, zumindest glauben wir ihn zu kennen. Das ganze Jahr über war sein Name in aller Munde. Wieder einmal – denn 2012 wäre der Schwede, der in düsterer Schreckenszeit in Budapest in gefahrvollem Einsatz das Leben Tausender Juden rettete, die SS und Pfeilkreuzler-Regime zusammengetrieben und zur Deportation in Vernichtungslager vorgesehen hatten, indem er ihnen Schutzpässe ausstellte und sie in Schutzhäusern barg, hundert Jahre alt geworden.

Weithin fanden in diesem „Wallenberg-Jahr“ Gedenkveranstaltungen statt und Konferenzen, auf denen – auch wieder einmal – seinem Schicksal nachgespürt wurde. Eine der gewichtigsten Konferenzen zur Spurensuche wurde im November in Wien ausgerichtet. Die Botschaften Schwedens, Ungarns und Israels richteten diese aus, der Zukunftsfonds der Republik Österreich förderte die Veranstaltung, die unter Leitung Stefan Karners vom Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung stand. Bei dieser internationalen wissenschaftlichen Konferenz in der Diplomatischen Akademie trug die Crème der Wallenberg-Forschung teils bekannte, vor allem aber neueste Erkenntnisse zu Person, Verdienst und Schicksal dieses „Gerechten unter den Völkern“ vor.

Bengt Jangfeldt von der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften beleuchtete den familiären Hintergrund des aus einer der reichsten Familien Schwedens stammenden Kosmopoliten, der 1944 im Auftrag der amerikanischen Hilfsorganisation „War Refugee Board“ nach Budapest übersiedelt und dort als Legationssekretär der schwedischen Gesandtschaft seiner Rettungsmission nachgegangen war und den er daher einen Helden nannte. Mária Schmidt, die Leiterin des „Hauses des Terrors“ in Budapest, beschrieb die Lage, in der sich Ungarn und das ungarische Judentum 1944/45 befanden und skizzierte damit das Umfeld von Wallenbergs Wirken.

An ihrem Landsmann Szabolcs Szita, dem Leiter des ungarischen Holocaust-Dokumentationszentrums, war es gelegen, minutiös die Umstände des Zusammentreffens Wallenbergs mit der in Budapest einrückenden Sowjetarmee sowie seiner Verhaftung und Verbringung nach Moskau auszuleuchten. Und der Moskauer Historiker Nikita Petrow vom dortigen Menschenrechtszentrum „Memorial“, zeigte auf, wie das stalinistische Repressionssystem funktionierte, dem der KGB-Häftling Wallenberg, der in Moskowiter Aktenbeständen als „Kriegsgefangener“ geführt wurde, der er nicht wirklich gewesen ist, bis zum Tod ausgesetzt war.

Während Susanne Berger, die der schwedisch-russischen Wallenberg-Forschungsgruppe angehörte, kritisch das schwedische Auskunftsbegehren gegenüber sowjetischen Stellen unter die Lupe nahm, breitete der deutsche Wallenberg-Biograph Christoph Gann die teils stichhaltigen, teils widersprüchlichen Zeugenaussagen über dessen Häftlingsdasein in Moskau und an diversen Gulag-Orten bis hin ins sibirische Workuta nördlich des Polarkreises aus. Zusehends rundete sich das Bild ob all der Details, welche die Vortragenden ausleuchteten.

Raoul Wallenberg wurde am 4. August 1912 in eine einflußreiche schwedische Familie von Bankern, Diplomaten, Bischöfen und Künstlern hineingeboren. Unterstützt von einem seiner Großväter – Wallenbergs Vater war schon vor der Geburt seines Sohnes verstorben, Mutter und Großmutter zogen ihn auf – erhielt er eine exzellente Ausbildung. Er sprach mehrere Sprachen, darunter auch Deutsch und Russisch.

Nach Schulabschluß und Militärdienst in Schweden ging er nach Paris, danach in die USA und studierte an der University of Michigan Architektur. Auf Wunsch des Großvaters nahm Wallenberg eine Stellung in Südafrika an, um dort das Bankgeschäft zu erlernen. 1936 wechselte er zur Holland Bank nach Haifa, wo er erstmals Kontakt mit Juden hielt, die den Nationalsozialisten entkommen waren. Von 1939 an arbeitete Wallenberg in Stockholm für Koloman Lauer, den aus Ungarn geflohenen Besitzer einer internationalen Handelsfirma, und bereiste in seiner Funktion als Geschäftsmann von der deutschen Wehrmacht besetzte Gebiete; auch in das mit Deutschland verbündete Ungarn kam er.

Als der 32jährige am 9. Juli 1944 als Erster Sekretär der schwedischen Gesandtschaft nach Budapest kam, war er erschüttert von Berichten über Juden-deportationen und begann sich aktiv für diese Verfolgten zu verwenden. Wahrscheinlich war er von Ivar Olsen, einem Schweden, der in Stockholm den „War Refugee Board“ vertrat, für diese Aufgabe angeworben worden. Olsen war aber auch Offizier des „Office of Strategic Services“ (OSS), des militärischen US-Geheimdienstes. Es ist nicht auszuschließen, daß diese Doppelfunktion Olsens Wallenberg bei den Sowjets zum Verhängnis geworden sein könnte. Denn nachdem er – der Judenretter von Budapest – mit den vermeintlichen sowjetischen „Befreiern“ in Gestalt von Soldaten und Offizieren der Roten Armee in Kontakt gekommen war, die ihn zunächst zuvorkommend behandelten, dürfte ihn die sowjetische Spionageabwehr-Organisation Smersch (Die Abkürzung steht für „Tod den Spionen“), an die er und sein ungarischer Fahrer überstellt wurden, für einen amerikanischen Agenten gehalten haben.

Der Festnahme am 14. Januar 1945 folgte nach Aktenlage im Zentralarchiv des Moskauer Außenministeriums die Anweisung des damaligen stellvertretenden Verteidigungsministers Nikolaj Bulganin an Marschall Rodion Malinowski, die Festgenommenen nach Moskau zu bringen. Am 25. Januar kommen die von einem Begleitkommando Bewachten mit dem Zug am Kiewer Bahnhof an, am 6. Februar ist Wallenberg Gefangener der Staatssicherheit (NKWD, später KGB) in der Lubjanka.

Dort verliert sich seine und seines Fahrers Vilmos Langfelders Spur. Ungewöhnlich war das damals nicht. Im Gegenteil: Laut Stefan Karner, dem gewiß besten westlichen Kenner des stalinistischen Repressionsapparats und der russischen Archive, selbst jenes des KGB, wurden über 100.000 Ausländer als vermeintliche oder tatsächliche Spione von Smersch verschleppt, von den sowjetischen Organen verurteilt und landeten im Gulag. Zwischen 1947 und 1950 war die Todesstrafe abgeschafft, danach über Stalins Tod 1953 hinaus wieder eingeführt gewesen.

Nach ersten zögerlichen Auskunftsersuchen seitens Stockholms, auf die Moskau mit vorgeblicher Unwissenheit oder dem verschleiernden Hinweis reagierte, Wallenberg sei wohl in Ungarn ums Leben gekommen, bleibt auch eine formelle Intervention des schwedischen Außenministeriums 1947 bei Wjatscheslaw Molotow unbeantwortet. Offizell verbreitete man in Schweden merkwürdigerweise die Auskunft, er sei wohl tot. Immerhin führt sowjetischen Quellen zufolge die Intervention dazu, daß Wiktor Abakumow, einst Smersch-Offizier, dann von 1946 bis 1951 als Minister für Staatssicherheit Chef des KGB-Vorläufers MGB, im Politbüro, dem er angehörte, aufgefordert wurde, Informationen über die „Liquidierung Wallenbergs“ zu liefern.

Erst 1957 gestand Moskau mittels einer formellen Note Außenminister Andrej Gromykos offiziell ein, daß er in ihrem Gewahrsam „infolge eines Herzleidens“ gestorben sei: Man habe ihn am 17. Juli 1947 in seiner Lubjanka-Zelle tot aufgefunden. Viel später erst, nämlich während der Gorbatschowschen Glasnost-Periode, als man 1989 in der KGB-Zentrale angereisten Vertretern der Familie die sorgsam verwahrten Habseligkeiten Raoul Wallenbergs übergab, präsentierte man den vom Leiter der Sanitätsabteilung der Lubjanka, Oberstabsarzt A. L. Smolzow, auf den 17. Juli 1947 datierten Totenschein. Weshalb dies für die russischen Stellen – die Generalstaatsanwaltschaft rehabilitierte ihn 2000 formell – als offizieller Todestag des schwedischen Diplomaten gilt.

Daß damalige Totenscheine, zumal solche sowjetischer Organe, manipuliert worden sein können, gilt in der Historikerzunft als offenes Geheimnis. Dem Vorhalt begegnete Wassilij Christoforow, der Leiter des Archivs des russischen Geheimdienstes FSB – des KGB-Nachfolgeorgans –, mit dem Hinweis darauf, daß Smolzow, der auch den im Archiv vorhandenen handschriftlichen Bericht über Wallenbergs Tod ausgestellt hatte, 1953 verstarb, woraus zu folgern sei, daß man entsprechende Papiere zumindest nach 1953 nicht nachträglich hätte ausstellen können, um der Gromyko-Note sozusagen Wahrheitsgehalt nach außen zu verschaffen.

Es gibt aber dokumentierte Zeugenaussagen, wonach Wallenberg noch nach 1947 am Leben gewesen sei – ein Gulag-Häftling, der Karpatendeutsche Anton Krüger, hatte Karner zu Protokoll gegeben, Wallenberg sei im August 1950 im Lager 2 in Workuta tot aufgefunden und von ihm und einem armenischen Mithäftling begraben worden. Auch andere Zeugen bestätigten, mit Wallenberg im Lagerkomplex Workuta zusammengetroffen zu sein, wiederum andere wollen ihm im Lefortowo-Gefängnis begegnet sein.

Derlei tat Christoforow vom KGB-Archiv als „Kalte-Kriegs-Propaganda“ ab. In seinem mit Spannung erwarteten Referat trug er auch nichts vor, was über die bisher bekannten Erkenntnisse hinausging; man habe außer den erwähnten keine Dokumente gefunden, welche weiteren Aufschluß böten. Immerhin ließ er gelten, daß die bisherige offizielle Moskauer Auskunft nicht die letztgültige sein müsse: Denn da gebe es ein Dokument über das Verhör eines „Gefangenen Nummer 7“ vom 23. Juli 1947, der mit Wallenberg identisch gewesen sein könnte. Er, Christoforow, halte bezüglich dessen Todes „alles für möglich“: sowohl durch einen Unfall, als auch durch die schlechten Haftbedingungen, gewiß auch „durch Nachhelfen“ könne er umgekommen sein. Gleichwohl könne er nicht mit Bestimmtheit sagen, ob der 17. Juli 1947 tatsächlich Wallenbergs Todestag gewesen sei. Was Karner und die anderen Fachleute zur Schlußfolgerung verleitet, daß damit das letzte Wort noch nicht gesprochen sei und unter den „Fall Wallenberg“ noch lange kein Schlußstrich gezogen werden könne.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen