© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 14. Dezmber 2012

Ständig unterschätzter Riese
Geschichtsvergessenheit und Heuchelei prägen im Westen seit Jahrzehnten das Chinabild
Peter Kuntze

Als Mitte November Pekings neue Führung im Gänsemarsch Einzug in die „Große Halle des Volkes“ hielt, wiederholten sich zwei seit Jahrzehnten unverändert gebliebene Rituale: einerseits die Kongreß-Choreographie der mit 82 Millionen Mitgliedern größten Organisation der Welt, andererseits die politisch-mediale Orchestrierung dieser Parteitage durch westliche Beobachter.

Wie schon den Staatsgründern Mao Tse-tung und Zhou Enlai sowie deren Nachfolgern wurde jetzt auch Xi Jinping und Li Keqiang, der eine als Staats- und Parteichef, der andere als Premierminister bis zum Jahr 2022 bestimmt, das baldige Ende ihrer Herrschaft prophezeit, sollten sie nicht umgehend demokratische Reformen auf allen Ebenen einleiten. Diese Prophezeiungen haben sich seit sechzig Jahren nicht erfüllt. Es bleibt daher offen, warum politisches Chaos und wirtschaftlicher Untergang ausgerechnet in der kommenden Dekade eintreten sollten, an deren Ende die Volksrepublik nach Ansicht der OECD die USA als größte Wirtschaftsmacht der Welt ablösen wird.

In erster Linie aber stellt sich die Frage, wie es Chinas Kommunisten gelungen ist, sich bis heute an der Macht zu halten. Schenkt man den Analysen und Berichten westlicher Beobachter Glauben, bleibt diese Frage ein ungelöstes Rätsel, oder man muß wie der Peking-Korrespondent einer führenden deutschen Tageszeitung Zuflucht zur Metaphysik nehmen: „China“, so schrieb er Anfang November, „ist ein politisches Wunder.“

Die Wahrheit ist indes viel simpler. Um sie zu ergründen, genügt ein Blick in die jüngste Vergangenheit des einstigen Reichs der Mitte: 1842 hatte Chinas rasanter Niedergang begonnen. Nach dem von Großbritannien provozierten Opiumkrieg mußten die Mandschu-Herrscher den ersten „ungleichen Vertrag“ unterzeichnen, in dem der Drachen-thron gezwungen wurde, Hongkong abzutreten und fünf weitere Häfen für den britischen Handel zu öffnen. Diesem Beispiel folgend, wurden Peking ähnliche „ungleiche Verträge“ von den USA, Frankreich, Belgien, Norwegen, Schweden und Portugal, später auch von Rußland, Deutschland und Japan aufgenötigt.

Die Abkommen schränkten Chinas Souveränität so stark ein, daß es Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Status eines halbkolonialen Landes herabsank: Fast alle bedeutenden Wirtschaftsunternehmen standen unter der Kontrolle ausländischen Kapitals, christliche Missionen erhielten Sonderrechte, die Fremden in ganz China wurden der Gerichtsbarkeit ihrer jeweiligen Konsulate unterstellt. Zu jener Zeit konnte das noch immer im mittelalterlichen Feudalismus verharrende Land, das einst Papier, Schießpulver und Kompaß erfunden hatte, nicht einmal Streichhölzer herstellen, sondern mußte sie als „ausländisches Feuer“ importieren.

Auch nach dem Sturz der Qing-Dynastie und der erstmaligen Proklamation einer „Republik China“ im Jahr 1912 trat keine Besserung ein. Im Gegenteil: Die Kolonialmächte teilten den „kranken Mann Asiens“ jetzt endgültig untereinander auf, einheimische Großgrundbesitzer beuteten die mehrheitlich ländliche Bevölkerung aus, Provinz-Militärmachthaber („warlords“) zogen marodierend durchs Land, Nationalisten und Kommunisten bekämpften sich in einem blutigen Bürgerkrieg. 1937 lösten japanische Truppen, nachdem sie zuvor die Mandschurei erobert hatten, einen achtjährigen Krieg gegen China aus, der erst 1945 mit der Kapitulation Tokios endete.

Als Mao mit seiner Bauern-Armee 1949 die Truppen Chiang Kai-scheks besiegt, das riesige Land unter seine Kontrolle gebracht und die „Volksrepublik“ proklamiert hatte, standen er und seine Mitstreiter vor unlösbar scheinenden Aufgaben: Nach fünfzig Jahren Krieg und Bürgerkrieg war China am Ende. Die Inflation war astronomisch hoch; Felder und Äcker waren verwüstet, Brücken und Dämme zerstört. Die wenigen Industriebetriebe lagen in Schutt und Asche. Achtzig Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten. Im Westen gab man den Männern um Mao keine Chance. Drei Monate, höchstens ein Jahr, so meinten damals Politiker und Journalisten, werde es dauern, bis die Volksrepublik zusammenbreche.

Nur wer dieser Ausgangslage eingedenk ist, wird das bis heute geleistete Aufbauwerk einzuschätzen wissen und nicht den Fehler begehen, an Chinas Gegenwart den Maßstab jener Länder zu legen, deren Industrialisierungsprozeß bereits vor zweihundert Jahren eingesetzt hatte und mittlerweile abgeschlossen ist. Wie gigantisch die Leistung ist, ein Volk von nunmehr 1,3 Milliarden Menschen zu ernähren, zu kleiden und mit Wohnraum zu versorgen, ist im Westen nie gerecht gewürdigt worden. Dabei sind dies die elementaren Menschenrechte, die erfüllt sein müssen, um überhaupt ein Leben in Würde führen zu können.

Zur historischen Wahrheit gehört es freilich auch, daß es in der Mao-Ära katastrophale Fehlentscheidungen gab – „Großer Sprung nach vorn“ (1958–1961), Kulturrevolution (1966–1976), die nach vorsichtigen Schätzungen fünfzig Millionen Menschenleben kosteten, in der Mehrzahl Hungertote. Gleichwohl bleibt es das Verdienst der Revolutionäre der ersten Stunde, ihre gedemütigte Nation wieder aufgerichtet, China gleichsam aus dem Mittelalter ins Atomzeitalter geführt und das einstige Reich der Mitte auf die weltpolitische Bühne zurückgebracht zu haben.

Die Mehrheit der Chinesen mißt ihre heutige Lage daher an der vielen noch immer präsenten Vergangenheit und stuft, abgesehen von einigen Dissidenten, die Parteiherrschaft völlig anders ein als dies im Westen geschieht, wo die Volksrepublik zu Zeiten des Kalten Krieges oftmals als „Reich der blauen Ameisen“ verspottet worden ist. Von 1949 bis Ende der siebsiger Jahre gab es nur wenige Beobachter, die aus eigener Anschauung zu einem realistischeren Urteil kamen. Zu ihnen zählten die im November im Alter von 96 Jahren in Großbritannien gestorbene Ärztin und Schriftstellerin Han Suyin sowie ihr Landsmann Felix Greene.

Der langjährige Chef des New Yorker BBC-Büros hatte das erste in China aufgenommene TV-Interview mit dem damaligen Regierungschef Zhou Enlai geführt und veröffentlichte später ein Buch, das nicht nur in den USA Aufsehen erregte. In seinem Standardwerk „A Curtain of Ignorance“, das 1966 in Deutschland unter dem Titel „Listen, Lügen, Lobbies – China im Zerrspiegel der öffentlichen Meinung“ erschien, legte Greene die teils auf Unwissenheit, teils auf Propaganda beruhenden Fehlinformationen über die Volksrepublik bloß.

Heute sind es ebenfalls nur wenige, die dem China der Gegenwart Gerechtigkeit widerfahren lassen – so in Deutschland Altkanzler Helmut Schmidt, der Publizist Peter Scholl-Latour, Ex-Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust sowie einige Sinologen. Die meisten Beobachter bestreiten zwar nicht, daß die Volksrepublik in den vergangenen drei Jahrzehnten gewaltige materielle Fortschritte gemacht hat, doch sie lassen sofort das linksliberale Mantra der „universalen Menschenrechte“ erklingen, an denen es in China ebenso fehle wie an Freiheit und Demokratie. Dabei lassen sie außer acht, daß die Chinesen in ihrer viertausendjährigen Geschichte nie freier waren als heute. Nur ungern lassen sich die Kritiker auch daran erinnern, daß seit der 1978 von Deng Xiaoping eingeleiteten Reform- und Öffnungspolitik eine halbe Milliarde Menschen die Armut überwunden haben. In jener Zeit hat sich das Durchschnittseinkommen der Chinesen, fast eines Fünftels der Erdbevölkerung, mehr als verzehnfacht; 300 Millionen können sich schon heute einen Lebensstil leisten, der dem im Westen nahe kommt.

Dies alles sind Erfolge, die in der bisherigen Weltgeschichte einmalig sind und das deutsche „Wirtschaftswunder“ weit in den Schatten stellen. Mögen Chinas Führer auch schwere Fehler begangen haben, so genießen doch sie und die Partei, in deren Namen sie agieren, bis heute Achtung und großen Respekt. „Mao Tse-tung“, so lautet das Credo, „hat uns von Feudalismus und kolonialer Unterdrückung befreit, Deng Xiaoping von der Armut.“

Natürlich gibt es auch eine Kehrseite des phänomenalen Aufholprozesses – in erster Linie die Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt. Doch war es nicht so, daß in Deutschland noch in den frühen siebziger Jahren eine Partei mit der Forderung „Blauer Himmel über der Ruhr!“ in den Wahlkampf zog? Ein weiteres Kernübel in China ist die Korruption in den Reihen selbst höchster Parteikader. Dieses Problems will sich die neue Führung vorrangig annehmen. Daß sie ein anderes ehrgeiziges Ziel erreichen wird, bezweifeln selbst westliche Ökonomen nicht: die Verdoppelung der Wirtschaftsleistung und des Pro-Kopf-Einkommens bis zum Jahr 2020, wofür ein jährliches Wachstum von 7,2 Prozent erforderlich wäre, was angesichts der zweistelligen Raten in den letzten Jahrzehnten als durchaus realistisch erscheint.

Die meisten westlichen Beobachter halten jedoch an den Prophezeiungen ihrer Vorgänger fest und sehen China wieder einmal „in der Sackgasse“. Waren es früher prognostizierte Hungerrevolten, so gelten jetzt die größer gewordene Kluft zwischen Arm und Reich, die Inflationsgefahr, das drohende Platzen einer Immobilien- und einer Kreditblase der Banken sowie der rege Gebrauch der modernen Kommunikationsmittel seitens einer sich allmählich bildenden „Zivilgesellschaft“ als Vorboten des unausweichlichen Untergangs.

Dieses Katastrophenszenario scheint jedoch eher die Widerspiegelung und Projektion der Abstiegsängste im hochverschuldeten Westen zu sein. Hier und nicht im prosperierenden China, das mit einem Devisenschatz von rund 2,5 Billionen Euro wuchern kann, stellt sich immer häufiger die Systemfrage.

 

Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor mehrerer Bücher über China.

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