© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 14. Dezmber 2012

Todeszonen der Gesinnung
Der Philosoph Wilfried Grießer legt eine bemerkenswerte Studie über die Gefahren von strafbewehrten Meinungsdelikten vor
Thorsten Hinz

Der Wiener Philosophiedozent Wilfried Grießer seziert in dem über 800 Seiten starken, vom österreichischen Wissenschaftsministerium geförderten Buch „eine geistige Situation, die unsere Zeit besetzt hält und um Spielräume bringt“. Die Sektion reicht vom Strafrecht bis in die Tiefenschichten der philosophischen Spekulation.

Grießers Spezialgebiet ist der Deutsche Idealismus. Die Gegenwart sieht er gekennzeichnet durch die fortschreitende Erdrosselung der Meinungs- und Gedankenfreiheit, letztlich der Denk- und Artikulationsfähigkeit in Europa. Während für alle möglichen Delikte die „gefängnislose“ Gesellschaft eingefordert und gebetsmühlenartig das herrschaftsfreie kommunikative Handeln zum Ideal erhoben wird, werden Straftatbestände proklamiert, die im Sprachlichen, also bereits im Vorfeld der praktischen sozialen Handlungen liegen. Die Sanktionierung der Holocaust-Leugnung bildete nur den Auftakt. Das Delikt der Volksverhetzung bezieht sich längst auch auf Fälle angeblicher Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, Sexismus usw. Fällige Diskussionen, die Analyse, Kontextualisierung und Historisierung umfassen, werden durch Exorzismus ersetzt, der einer „Logik der Spaltung, Isolierung und Dämonisierung verpflichtet“ ist.

Der Autor beschränkt sich auf Österreich und wirft Seitenblicke auf die Bundesrepublik. In Österreich bildet das Wiederbetätigungsgesetz von 1947, das alle nationalsozialistischen Bestrebungen unter Strafe stellt, die juristische Handhabe für die Verfolgung von Meinungsdelikten. Bereits öffentlich geäußerte Zweifel am Sinn des Gesetzes können unter das Verdikt der Wiederbetätigung fallen, weil – so läßt sich argumentieren – seine Aufhebung eine Atmosphäre schaffen würde, in der der Nationalsozialismus eine Renaissance erlebt.

So verlagert sich der politische Identitätskern vom Staatsvertrag 1955 auf ein Verbotsgesetz, das in unmittelbarer Reaktion auf die NS-Zeit entstand. Analog dazu wird in der Bundesrepublik das Grundgesetz zunehmend als Gegenentwurf zum NS-Regime und damit als antifaschistische Handlungsanweisung interpretiert. Übertretungen werden vor allem auf Grundlage von Paragraph 130 des Strafgesetzbuches (Volksverhetzung) verfolgt.

Doch die Meinungsfreiheit ist keine beliebig formbare „Spielregel“ einer Gesellschaft, sondern etwas Fundamentales, eine causa sui, die Bedingung ihrer selbst: Nur die volle Meinungsfreiheit macht es möglich, daß diese sich selber frei thematisieren – und übrigens auch in Frage stellen – kann. Sie ist eng mit der Sprache verwoben, die ein essentielles Merkmal des Menschen ist. Erst durch Sprache entfaltet er sowohl seine Individualität als auch seine Gesellschaftlichkeit. Mittels Sprache wird er zum homo politicus. Folglich ist die Meinungsfreiheit „die fundamentale Freiheit des Menschen als Mensch, und daher steht und fällt mit der Meinungsfreiheit die Sprachlichkeit, damit auch die Menschlichkeit einer Gesellschaft“.

Nun wird argumentiert, dem Holocaust-Leugner gehe es gar nicht um die Wahrheit, sondern um deren Negierung. Die Meinungsfreiheit werde von ihm mißbraucht, daher würde das Verbot statt der Meinungsfreiheit nur ihren Mißbrauch treffen. Grießer hält dagegen, daß die „Wahrheit“ sich aus dem Zusammenspiel von Denken und Fakten ergibt. Sie ist also ein „Drittes“, das sich erst erschließt und somit ein dynamischer Prozeß, der auch durch Widerspruch, sogar durch Falschbehauptungen vorangetrieben werden kann.

Hinzu kommt, daß objektive Falschbehauptungen subjektiv als wahr angenommen sein können, es sich also um bloße Irrtümer handeln kann. Einen Irrtum mit Gefängnis zu sanktionieren wirft schwerwiegende juristische und ethische Fragen auf. Verbotsgesetze stufen zudem die Wahrheit zu einem juristisch durchgesetzten Wahrheitsanspruch herab, „denn wenn alles relativ und verhandelbar ist, warum nicht auch der Holocaust?“ Wer den Meinungsstreit von der Ebene der Sachauseinandersetzung auf die der Justiz verlegt, führt lediglich seine größere Macht als Argument an.

Grießer zerpflückt den Einwand, das Leugnungsverbot wäre durch die Betroffenheit der überlebenden Opfer oder ihrer Nachkommen geboten. Zunächst wäre zu fragen, mit welchem Recht die Betroffenheit von Opfern des Kommunismus, des Bombenkriegs, der Vertreibung usw., deren Quantität und Qualität einer permanenten Neudeutung unterliegen, vom Gesetzgeber geringer veranschlagt werden als die der Holocaust-Opfer. Weiterhin scheint es bedenklich, daß die Befindlichkeit einer bestimmten Gruppe andere Menschen ins Gefängnis bringt, zumal ihr Empfinden auch zielgerichtet inszeniert oder von dritter Seite unterstellt sein kann.

Einen Höhepunkt bildet die Passage, in der Grießer sich mit der Behauptung beschäftigt, Zweifel am Holocaust verletzten die Würde der Opfer bzw. „des Menschen“. Das Verbrechen des Holocaust richtet sich durch sich selbst und seine Faktizität stellt sich durch sich selber sicher. Der exzeptionelle Verbrechens­charakter des Judenmords liegt darin, daß er ein exzeptioneller Angriff auf bzw. eine exzeptionelle Negation der menschlichen Würde war. Die Würde der Ermordeten liegt in sich selbst begründet bzw. wurde ihnen von Gott verliehen. Deshalb kann sie ihnen niemand nehmen, auch kein Holocaust-Leugner.

Wer dennoch auf der Verletzung ihrer Würde besteht, der leitet diese aus dem Holocaust, also aus ihrer Ermordung bzw. aus einer bestimmten Tötungsart ab. Das impliziert unfreiwillig, aber logisch schlüssig, daß den Ermordeten ihre Würde erst durch ihre Mörder verliehen worden ist: Eine wohl bizarre, ja perverse Folge, die sich aus der Dialektik des politischen Strafrechts ergibt. Erklären läßt sich der unhaltbare Zustand nur aus dem Bedürfnis, das metaphysische Vakuum der säkularen Zeit durch ein neues Glaubensbekenntnis zu füllen.

Aus der juristischen Festschreibung der Wahrheit bzw. des Wahrheitsanspruchs folgt das Beweisthemenverbot, das heißt, die Wahrheitsfrage darf nicht mehr gestellt werden. Grießer spricht von einem „Abschneiden der Sachebene“, was so weit geht, daß ein Richter erklärte, es gehe nicht darum, ob es den Holocaust gegeben habe oder nicht, sondern darum, daß sein Bestreiten verboten sei. Ein anderer äußerte, er könne keinen Beweisantrag zulassen, weil er es nicht dürfe.

Der Autor kommentiert sarkastisch: „... die Neuzeit fordert Beweise, und sie kriminalisiert zugleich das Fordern von Beweisen“. Und es kommt noch schlimmer: Als „suggestive Leugnung“ oder „Verharmlosung“ des Holocaust kann bereits das Aufzählen von beweisbaren Tatsachen ausgelegt werden, wenn das Gericht zu der Auffassung kommt, daß anderes durch sie verharmlost oder geleugnet werden soll. Unter Umständen könnte die richtige Aussage, daß es im Konzentrationslager Dachau keine Gaskammermorde gab, als Verharmlosung des Schicksals der dort tatsächlich Umgekommenen oder als intendierte Leugnung von Gaskammern überhaupt gedeutet werden.

Indem man die allgemeine Bekanntheit eines gesicherten Wissens postuliert, wird das Leugnen zum subjektiven Lügen erklärt, selbst wenn der Angeklagte subjektiv vom Wahrheitsgehalt seiner Aussage überzeugt ist. Die schizoide Situation läßt ihm als Ausweg nur das „Leugnen des Leugnens“, was wiederum strafverschärfend wirkt, und selbst das Einlegen von Rechtsmitteln kann „Wiederbetätigung“ sein. Gleiches kann passieren, wenn man bestreitet, daß der Sieg über das Deutsche Reich 1945 eine „Befreiung“ war, denn das könnte geeignet sein, die Grundlage der österreichischen Staatlichkeit seit 1945 in Frage stellen.

Österreich entwickelt sich damit zum Modellfall für Europa. Dank des europäischen Haftbefehls können Meinungsdelikte auch grenzüberschreitend verfolgt werden. Weil eine im Internet plazierte Meinungsäußerung auch im Ausland abgerufen werden kann, macht man sich dort eventuell strafbar, obwohl sie zu Hause vom Gesetz gedeckt ist. Da hilft es auch nicht, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen, denn der fühlt sich für solche Fälle nicht zuständig. Schließlich ist er selber ein Kind jener Nachkriegsordnung, aus deren Geist die Gesetze über Meinungsdelikte hervorgehen.

Der Weg führt von der Unsagbarkeit des Holocaust über die Unsagbarkeit seiner Leugnung bis zur Unsagbarkeit des Selbstverrats des Rechtsstaats. Das ergibt ein Klima des Mißtrauens und der Furcht, in dem ein antifaschistischer „Neojakobinismus“ gedeiht, der stets bereit ist, zur Jagd zu blasen. Der öffentliche Raum verdampft, die Intelligenz wird eingeschüchtert, verfällt dem Opportunismus und rekrutiert sich fortan durch Negativauslese. Wenn aber die Medien, Universitäten, Akademien, Kirchen usw. keine Orte des freien Austauschs mehr sind, dann bleibt nur noch das Gefängnis, um sich im Protest zu bekennen: „Die Verschmelzung von Holocaustleugnung und langjähriger Haftstrafe kann Figuren wie Horst Mahler unfreiwilligerweise zu Märtyrern einer letzten Wirklichkeit machen, um der Leugnung des Holocaust selbst eine Aura des Tragischen zu verleihen.“

Das sind Symptome eines schleichenden kulturellen und geschichtlichen Todes. „Wer den Menschen ihre Vergangenheit nimmt und deren Deutung monopolisiert und kontrolliert, nimmt ihnen zugleich ihre Gegenwart und Zukunft.“ Der Typus des politisch korrekten, reflexhaft auf Signalwörter reagierenden Zombies wird mehrheitsfähig. Die Dämonisierung der Vergangenheit im Schatten des Nationalsozialismus führt auch zur Dämonisierung der familiären Kontinuität, was die eigene Fähigkeit zur Generativität in Frage stellt. Daher läuft die zivilreligiöse Holocaust-Fixierung auf einen „subtilen Todeskult“ hinaus. Der bedroht nicht nur Österreich und Deutschland, sondern den gesamten Kontinent, weil Europa – jedenfalls auf der offiziellen Ebene – diese Fixierung zu seinem geistig-kulturellen Fundament erklärt hat. Die Schlußfolgerung kann nur lauten: „Ohne einen gereifteren Umgang mit dem Holocaust ist Europa verloren.“

Grießers Buch bietet dafür die Grundlage, indem es eine präzise Anamnese unserer maroden Kultur erstellt. Es ist kritisch anzumerken, daß seine Struktur ein wenig disparat geraten ist, es viele Abschweifungen und Wiederholungen gibt und dem Autor sein Scharfsinn manchmal zum Selbstzweck gerät. Was nichts daran ändert, daß dieses Buch zum Besten und Tiefsten gehört, was zum Thema geschrieben worden ist. Der Autor verkörpert eine Synthese aus Bildung, Intelligenz, Freigeist und Courage und ist damit unter den heutigen Umständen nahezu ein Unikat.

Wilfried Grießer: Verurteilte Sprache. Zur Dialektik des politischen Strafrechts in Europa. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2012, gebunden, 830 Seiten, 79,80 Euro

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