© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/13 / 04. Januar 2013

Mein geliebtes Icking
Redakteure und ihre Heimat: Dieter Stein und seine Odyssee durch Süddeutschland / JF-Serie, Teil 1
Dieter Stein

Es ist die immer wiederkehrende Frage: Wo komme ich her? Wo ist meine Heimat? Der Ort, an dem ich geboren wurde? Der, an dem ich laufen lernte und wo ich in den Kindergarten ging? Ist meine Heimat dort, wo meine Grundschule war oder da, wo ich mein Abitur machte? Wo ich heute lebe? Bei mir sind diese Orte alle verschieden, Hunderte von Kilometern voneinander getrennt.

Mein Vater war Soldat, ein Beruf, der es mit sich brachte, daß unsere Familie viele Male umziehen mußte. Und so kenne ich es nicht, an demselben Ort aufgewachsen zu sein. Als Geburtsort steht in meinem Paß Ingolstadt. Tatsächlich verbinde ich damit keine Erinnerungen, denn ich war noch nicht einmal ein Jahr alt, als wir dort fortzogen. Danach ging es mit Zwischenstopp in das nördlich von Freiburg im Breisgau liegende südbadische Örtchen Denzlingen. Von dort stammen die frühesten Kindheitserinnerungen. Als ich fünf Jahre alt war, 1972, zogen wir nach Icking im Isartal, weil mein Vater nach München versetzt worden war.

Icking liegt an der B 11, 25 Kilometer südlich von München auf der Höhe des Starnberger Sees, 630 Meter hoch, 3.000 Einwohner – von hier blickt man in Richtung Süden auf das monumentale Alpenpanorama.

Wenn wir sprechen lernen, brennen sich zu den Wörtern Bilder in das Gedächtnis ein. Schließe ich die Augen und höre das Wort „Wald“, dann denke ich nicht an einen abstrakten, sondern unwillkürlich an einen konkreten Wald.

Es ist der Wald bei Icking mit seinen hohen Tannen, durch den ich oft mit meinen Geschwistern und Freunden streifte, wo wir Pilze sammelten oder auf Lichtungen heimlich zündelten. Es ist eine Zeit, als Eltern ihre Kinder nachmittags sorglos hinausschickten und wir über Baustellen und Wiesen stromerten. Ich sehe den Ulrichshügel, den wir im Winter herunterrodelten oder im Sommer uns seitlich herunterkullern ließen.

Im Sommer fuhren wir mit dem Auto – ohne Anschnallgurte und mangels Klimaanlage mit geöffneten Fenstern – an den Starnberger See oder in die Isarauen (FKK!) zum Baden. Im Winter liefen wir Schlittschuh auf dem Stocker Weiher oder im Tal auf den Seitenarmen der Isar.

Das halbe Jahr war ich barfuß mit oder ohne Sandalen unterwegs, im Winter mit langen, im Sommer mit kurzen Lederhosen. Die Milch holten wir in Blechkannen vom Bauernhof im benachbarten Irschenhausen. Die Kühe hatten Namen, und wir durften auf dem Trecker mit aufs Feld fahren.

Den Geruch von auf der Straße angetrocknetem Kuhmist und verbrannten Gartenabfällen im Herbst (heute verboten) habe ich jetzt noch in der Nase. Am Lagerfeuer pafften wir getrocknete Holunderzweige. Als wir 1979 nach erneuter Versetzung meines Vaters nach Freiburg in den Schwarzwald umziehen mußten, war es uns, als müßten wir das Paradies verlassen. Alle Freunde ließen wir zurück, die Zwiebeltürme der Dörfer, die geschwungenen Moränenhügel der Voralpenlandschaft, den heimeligen Klang des bayerischen Idioms.

Es sollte Jahre dauern, bis wir uns damit abfanden, im Schwarzwald gelandet zu sein. Was bin ich heute? Bayer? Badener? Letztes Jahr verbrachten wir unseren Urlaub am Alpenrand. Ein Abstecher nach Icking mußte sein. Es konnte ein Jugendfreund ausgegraben werden. Ich fühlte mich wie ein Heimatvertriebener, der sentimental in Erinnerungen schwelgt. „Weißt du noch ...?“

Es ist ein sehnsüchtig-bitteres Gefühl, das mich befällt, wenn ich an Icking denke. Ein Stück Kindheit, das verschüttet ist und von dem ich fortgerissen wurde durch den ungeliebten Umzug nach Freiburg.

Bald werde ich die Hälfte meines Lebens in Berlin verbracht haben. Hier sind meine Kinder geboren. Hier ist meine Zeitung. Hier – genauer in Potsdam – verbrachte mein Vater bis 1945 seine frühe Kindheit. Vom Kopf Wahlpreuße, bleibe ich doch im Herzen daheim, wo das Auge am Horizont auf würdige Berge stößt.

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