© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/13 / 04. Januar 2013

Falscher KZ-Häftling
Der 77jährige Rentner Otto Uthgenannt hat sich eine jüdische Opfer-Biographie zurechtgeschustert
Thorsten Hinz

Eben noch war der 77jährige Rentner Otto Uthgenannt aus Wittmund in Ostfriesland ein hochgeachteter, ja hofierter Mann. Er hielt Vorträge in Schulen, trat bei Gedenkveranstaltungen auf und war Ansprechpartner des Präventionsrates „Für Demokratie und Toleranz“. Man kennt ihn in Jade, Wildeshausen und Wilhelmshaven. Einer Premiere des Auschwitz-Dramas „Die Ermittlung“ von Peter Weiss wohnte er als Ehrengast bei. Er trug eine Kippa, die jüdische Kopfbedeckung. Otto Uthgenannt war Opfer des Nationalsozialismus und Holocaust-Überlebender.

Die Geschichte, die er berichtete, war so grauenvoll, daß er der Anteilnahme der Zuhörer sicher war. Als Dreijähriger erlebte er 1938 in seiner Geburtsstadt Göttingen den Novemberpogrom. Nazis drangen in die Wohnung ein und verprügelten den Vater. Die Familie floh nach Italien, wurde aber 1940 in einem überfüllten Güterwaggon ins KZ Buchenwald deportiert. Der Vater, die Mutter, die Schwester, insgesamt 72 Familienangehörige wurden ermordet. Seine Kindheit verbrachte er im KZ.

Anschaulich verbreitete er sich über den ständigen Hunger und die Angst vor dem Genickschuß. Die Kinder mußten täglich die Latrinen der SS säubern. Wer sich schmutzig machte, wurde in eine Badewanne mit eiskaltem Wasser getaucht. Just an dem Tag, als die Amerikaner Buchenwald befreiten und sich für den Zehnjährigen die KZ-Tore öffneten, starb sein gleichaltriger Freund Daniel.

Danach kam Otto in ein Waisenhaus in Zürich. Dort lernte er lesen und schreiben. Er faßte wieder Lebensmut. Er ging in die USA und arbeitete bei der Firma Sony, in Deutschland war er an der Einführung des Kabelfernsehens beteiligt. Er stellte sich als „überzeugter Pazifist“ vor, der nichts vergessen, aber verziehen habe. „Vergebung schafft Frieden“, lautete sein Motto.

„Auch privat hat der 77jährige ein spätes Glück gefunden“, berichtete die in Oldenburg erscheinende Nordwest-Zeitung (NWZ). „Vor zehn Jahren lernte er seine Frau kennen, fährt mit ihr gerne im Wohnmobil durch die Lande und genießt das Leben in Ostfriesland.“ Trotzdem war er voller Sorge: „Ich habe bis heute Angst vor Skinheads und Nazi-Parolen“, erklärte er den Schülern und verwies auf die Zwickauer Terrorzelle NSU.

Nun hat sich herausgestellt, daß von seinen Erzählungen kein Wort stimmt. Nach NWZ-Recherchen stammt Uthgenannt aus keiner jüdischen, sondern aus einer protestantischen Familie. Seine Familie hat weder im KZ gesessen noch ist sie ermordet worden. Uthgenannt ist ein Krimineller, ein Betrüger und Scheckfälscher, der bereits in seiner Jugend auf die schiefe Bahn geriet. 1989 wurde er in den USA verhaftet.

In einem Gefängnis im US-Bundesstaat Arizona verfaßte er laut NWZ 1994 einen Aufsatz, in dem er sich als Holocaust-Überlebender zu erkennen gab, der von den Amerikanern als Zehnjähriger aus dem KZ Buchenwald befreit worden und ihnen dafür anhaltend dankbar sei. Er bewies ein gutes Gespür. In Washington war gerade das Holocaust-Museum eröffnet worden, Steven Spielbergs Kinofilm „Schindlers Liste“ eroberte weltweit die Kinos, und die US-Regierung hatte die Rückgabe jüdischen Eigentums in Osteuropa zu ihrer Angelegenheit gemacht.

Im Jahr 2002 meldete Uthgenannt sich in der Jüdischen Gemeine in Oldenburg und legte Dokumente vor, die ihn als Juden auswiesen. Jetzt war er kein Krimineller mehr, sondern ein Opfer. Mit den Rechercheergebnissen konfrontiert, sagte er: „Dann entschuldige ich mich. Ich bin 77 Jahre alt, ich habe es ja nur gut gemeint.“ Gewiß. Er fühlt sich im Einklang mit den Zeitumständen. Die Jüdische Allgemeine, die den Fall kurz vor Weihnachten aufgriff, titelte: „Der eingebildete Jude“.

In die Rolle eines falschen Holocaust-Opfers zu schlüpfen, war zunächst eine Geschäftsidee, bei der es Uthgenannt weniger um Geld als um Anerkennung ging. Das unstete Leben des Betrügers tauschte er ein gegen die ehrbare Existenz eines gefragten „Zeitzeugen“. Die Überzeugungskraft und Detailtreue, mit der er die vermeintlichen Kindheitserlebnisse schilderte, sind Symptome eines Krankheitsbildes, der Pseudologie. Damit wird ein zwanghaftes Lügen bezeichnet, das in der Regel eine Kompensation für Defizite darstellt, die oft in der Kindheit liegen.

Warum aber gingen die Auftritte Uthgenannts so anstandslos über die Bühne? Man fühlt sich an den Hauptmann von Köpenick erinnert – in Wahrheit ein armer Schuster –, dessen Autorität ebenfalls nicht in Frage gestellt wurde, als er in falscher Uniform die Stadtkasse beschlagnahmte. Die Servilität der kommunalen Beamten wird oft zitiert, um eine fatale obrigkeitsstaatliche Gesinnung im Kaiserreich zu illustrieren.

In Deutschland wird unendlich viel Zeit und Energie auf die Vermittlung des Holocaust verwendet. Wenigstens den Geschichtslehrern hätten Unstimmigkeiten in Uthgenannts Darstellungen ins Auge fallen müssen. Judendeportationen aus Italien fanden erst ab der zweiten Jahreshälfte 1943 statt, nach Mussolinis Sturz, als Italien faktisch zum Feindstaat wurde. Kinder sind in Buchenwald erst ab 1944 verzeichnet. Und das Bilderbuch des Grauens und der Traumata, das Uthgenannt aufschlug, wirkt in seiner idealen Typisierung verdächtig: Seit dem Transport ins KZ sei er nie mehr Zug gefahren. Er habe Angst vor Ärzten, weil er im KZ sterilisiert worden sei. Und er rauche nicht, weil die SS sich einen Spaß daraus gemacht habe, Zigarettenkippen auf den Boden zu werfen und die Häftlinge, die sich danach bückten, zu erschießen. Das alles hat es gegeben! Aber man hätte auch auf den Gedanken kommen können, daß Uthgenannt vielleicht Anleihen aus Bruno Apitz’ Buchenwald-Roman „Nackt unter Wölfen“ – in dem es um die Rettung eines jüdischen Kindes geht – oder eben aus „Schindlers Liste“ wiedergab.

Hellhörig hätte der Fall des Schweizer Bruno Dössekker machen müssen, der behauptet hatte, in Wahrheit Binjamin Wilkomirski zu heißen. 1995 veröffentlichte er das Buch „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1945“. Darin stellt er detailliert sein angebliches Überleben als Kleinkind in Auschwitz dar. In Wahrheit war Dössekker 1941 in der Schweiz geboren, in einem Waisenhaus abgegeben und von einer wohlhabenden Familie adoptiert worden. Die Kritik in Deutschland und im englischsprachigen Raum feierte das Buch als einen Höhepunkt der Erinnerungsliteratur, bis 1998 der Betrug enthüllt wurde. Damals wurde der Begriff „Wilkomirski-Syndrom“ geprägt.

Es spricht viel dafür, daß zum jahrelangen, zweifelhaften Erfolg des Otto Uthgenannt auch der Paragraph 130 im Strafgesetzbuch beigetragen hat, der die Leugnung und Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen unter Strafe stellt. Wie hätten Lehrer und Schüler es unter diesem Damoklesschwert wagen dürfen, die Stichhaltigkeit seiner Erzählungen in Frage zu stellen? Gläubige Betroffenheit trat an die Stelle des kritischen Verstands, das obrigkeitsstaatliche Schaf an die Stelle des selbstbewußten Bürgers.

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