© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/13 / 04. Januar 2013

„Alles für das Reich“
Geschichtsphilosophie: Zum 75. Todestag des Historikers Christoph Steding
Nico Schütt

Reinhard Heydrich, SS-Obergruppenführer und Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), und Theodor Heuss, seit 1933 Journalist in der „Inneren Emigration“ und von 1949 bis 1959 erster Bundespräsident, dürften sehr selten einer Meinung gewesen sein. Bezüglich des in der Nacht vom 8. auf den 9. Januar 1938 einem Nierenleiden erlegenen Nachwuchshistorikers Christoph Steding waren sie es aber. Denn der eher gegenintellektuelle Heydrich, der das hinterlassene, beinahe 800seitige Monumentalwerk „Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur“ kaum angeblättert hatte, beglaubigte mit seiner Unterschrift ein RSHA-Gutachten, das der „groß gesehenen Geschichtsphilosophie“ des ihm gleichaltrigen, 1903 geborenen niedersächsischen Bauernsohnes eine „außergewöhnliche Bedeutung“ attestierte. Und Theodor Heuss, in einer kritischen Rezension jenes Typs, der davon zeugt, daß geistige Freiheit im Dritten Reich nicht verdampft war, nötigte die Rezeptionsleistung des Autors, der eine schier unübersehbare Literatur in sich „hineingefressen“ habe, Bewunderung ab.

Carl Schmitt widmete dem Opus 1939 einen Essay zum Thema „Neutralität und Neutralisierungen“, der Stedings „Gedankenfülle“ rühmte und der den „genialen Torso“ als „große Waffenschmiede“ pries im Kampf gegen die westlichen Demokratien, die emsig ihre geistige Rüstung für einen „gerechten Krieg“ gegen das Großdeutsche Reich betrieben.

Schmitt verschwieg jedoch nicht, daß das von Walter Frank, dem führenden NS-Historiker, aus dem Nachlaß edierte Manuskript, diesem „zyklopischen Bau“, die „gut durchkonstruierte Architektur“ fehlte. Heuss drückte es weniger zartfühlend aus, wenn er sich verwunderte, wie jemand an einigen Thesen „die halbe Welt“ aufhängen könne.

Tatsächlich ist es sogar nur eine, freilich fruchtbare Analysen und tiefe Einsichten ermöglichende These, die Steding, wie Schmitt moniert, „fragmentarisch, unsystematisch, subjektivistisch“ durchspielt. Sie behauptet den Gegensatz zweier Menschen- und Weltbilder wie den der danach justierten Staats- und Gesellschaftsordnungen. Auf der einen Seite steht „das Reich“ als ideale politische Ordnung, wieder begründet als Otto von Bismarcks Schöpfung, neu gegründet durch Adolf Hitler. Demgegenüber, seit 1648, die abtrünnigen „Neutralen“, Holland, die Schweiz und das wegen seiner nordelbischen Herzogtümer als „Zwischenland“ eingestufte Dänemark, die bei Steding zugleich als Einfallspforten reichsfeindlicher, westlicher Ideologien gelten.

Steding, ein einsamer Student in Hannover, Freiburg im Breisgau, Marburg und Münster, der als Gelehrter „alles für das Reich“ geben wollte, der nur zwei Mentoren, Martin Heidegger und seinen Hannoveraner Lehrer, den Sozialdemokraten Adolf Grimme, den späteren preußischen Kultusminister, kannte, entstammte selbst einer von ihm als reichsfeindlich stigmatisierten Region, dem 1866 Preußen einverleibten Welfenland. 1931 promovierte er im (ebenfalls 1866 Preußen zugeschlagenen hessischen) Marburg bei Wilhelm Mommsen über „Politik und Wissenschaft bei Max Weber“, dem ultranationalistischen Liberalen, dem Idol von Theodor Heuss. Mit allen Fasern hing er also am Objekt seines Hasses, der Welt des liberal-demokratischen „Gegenreiches“ der Privatheit, des Konsums, der Geschichtsferne.

Da die Berliner Republik den Rückruf in die Geschichte nicht hört, sondern sich rasend schnell auf das vollendete Stadium der „Bodenlosigkeit des Daseins“, der „Verschweizerung“ zu bewegt, empfiehlt sich Stedings krauser Wälzer unvermutet als Inspiration für alternative Entwürfe.

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