© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/13 / 11. Januar 2013

Alle Macht der Liste
Bundestag: Das neue Wahlrecht schwächt die Stellung der direkt gewählten Abgeordneten und stärkt die Macht der Parteien bei der Kandidatenauswahl
Thorsten Brückner

Im Dezember war es endlich soweit: Regierung und Opposition einigten sich, wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert, auf ein neues Wahlrecht. Allein die Linkspartei wollte sich nicht anschließen und bestand darauf, daß durch die neu entstehenden Ausgleichsmandate das Parlament unnötig aufgebläht würde.

Der Entwurf mußte zwei Vorgaben des Gerichts Rechnung tragen. Einerseits sollte das negative Stimmgewicht beseitigt werden, also der Umstand, daß einer Partei durch Zugewinn von Zweitstimmen in bestimmten Fällen Mandate verlorengehen können. Dieses trat erstmals bei der Bundestagswahl 2005 ins öffentliche Bewußtsein, als nach dem Tod einer Direktkandidatin die Wahl im Wahlkreis Dresden I zwei Wochen nach dem eigentlichen Termin stattfinden mußte. Aufgrund der Kenntnis der übrigen Resultate war dadurch taktisches Abstimmen möglich. Die CDU hätte mit zu vielen Zweitstimmen ein Mandat eingebüßt und forderte ihre Anhänger daher auf, ihr Kreuz bei einer anderen Partei zu machen. Da sie in Sachsen bereits mehr Wahlkreise gewonnen hatte als ihr dort Mandate über die Zweitstimme zustanden (Überhangmandate), hätte die sächsische CDU der Union in einem anderen Bundesland ein Mandat weggenommen, wodurch die CDU insgesamt ein Mandat eingebüßt hätte.

Gleichzeitig verlangte das Gericht, daß es nicht mehr als 15 Überhangmandate geben dürfe. Anstatt durch eine minimalinvasive Lösung erneut zu riskieren, daß Karlsruhe das Gesetz kassiert, sieht der in der kommenden Woche im Innenausschuß zur Debatte stehende Entwurf nun vor, alle Überhangmandate auszugleichen. Neben der von der Linkspartei kritisierten Vergrößerung des Parlaments auf bis zu 700 Mandatsträger nach dem neuen Verfahren (gegenwärtig 620), hat der Entwurf vor allem Auswirkungen auf den Wert und das relative Gewicht der Erststimme. Bisher war garantiert, daß mindestens eine gleiche Anzahl von Parlamentariern ihr Mandat über die Wahlkreisstimme beziehungsweise die Parteiliste erhalten hat. Durch Überhangmandate war es in der Praxis jedoch immer so, daß mehr Parlamentarier, die ihren Wahlkreis direkt gewonnen hatten, im Parlament saßen als solche, die über die Landesliste ihrer Partei eingezogen sind. Dieses Bild verkehrt sich nun.

Durch den Ausgleich der Überhangmandate werden ab der nächsten Bundestagswahl erstmals mehr Abgeordnete im Parlament sitzen, die über eine Parteiliste einziehen. Die Parteiapparate werden dadurch gestärkt und erhalten noch mehr Einfluß bei der Kandidatenauswahl. Die Zahl der Abgeordneten, die auf den direkten Kontakt mit den Menschen vor Ort angewiesen ist und die bisher schon durch die häufige Absicherung von Wahlkreiskandidaten auf der Landesliste eingeschränkt war, sinkt weiter. Hat schon bisher allein die Zweitstimme den Ausschlag für die Mandatszahl gegeben, die den Parteien zustand, so konnten die Wähler durch taktisches Stimmensplitting gezielt Überhangmandate produzieren und so neben der personellen Zusammensetzung auch Einfluß auf die Mandatsanzahl nehmen.

Bezüglich des negativen Stimmgewichts war die Reform ohnehin ein Schlag ins Wasser. Sorgte bisher die Verrechnung der Mandate über die verbundenen Landeslisten der Parteien für mögliche Verzerrungen, ist es nun das Ausgleichsverfahren selbst, durch das negatives Stimmgewicht hervorgerufen werden kann. Der Wahlrechtsexperte Christian Hesse hat es in der Zeit vorgerechnet: Hätte bei der Wahl 2009 die Linkpartei in Hamburg etwa 8.000 Stimmen mehr gewonnen und dadurch auf Kosten der CDU ein Mandat mehr erhalten, wäre die Union mit weniger Mandaten in das Ausgleichsverfahren gegangen, was die Gesamtbemessungsgrundlage verändert hätte – in diesem Fall wären weniger Mandate auszugleichen gewesen. Der Bundestag wäre etwas kleiner geworden, alle Parteien hätten wie die Linkspartei exakt ein Mandat verloren. Der prozentuale Mandatsanteil der Linken wäre durch die mehr gewonnenen Stimmen jedoch von 12,67 Prozent auf 12,61 Prozent gesunken.

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