© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/13 / 11. Januar 2013

Faszination und Fremdheit
Beginn der Reihe „Rußlands Außenpolitik“: Moskaus schwieriges Verhältnis zum Westen
Thomas Fasbender

Vor einundzwanzig Jahren, im Dezember 1991, schlug der kommunistischen Sowjetunion die Todesglocke. Das neue Rußland war geboren, eine Republik mit marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnung, Wahlen und einem Mehrparteiensystem. Doch ungeachtet der Integration Rußlands in die Weltwirtschaft, ungeachtet offener Grenzen und vielfachen Austausches tut der Westen sich schwer mit dem riesigen eurasischen Land.

Faszination und gegenseitige Anziehung gehen Hand in Hand mit einem tief verwurzelten Gefühl der Fremdheit. Widersprüche prägen auch die Beziehungen in Politik und Wirtschaft. Die deutschen Rußlandexporte brechen alle Rekorde, deutsche Staatsangehörige bilden die größte westliche Ausländergemeinde, kein Land ist mit einer größeren Zahl an Unternehmensvertretungen präsent. Doch die enge Zusammenarbeit auf der Arbeitsebene findet weder in der Politik noch in den Medien ihren Widerhall. Das Tauwetter in den neunziger Jahren hat einem schroffen, unterkühlten Umgang miteinander Platz gemacht.

In der westlichen Öffentlichkeit verbindet sich diese Entwicklung mit dem Namen des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dabei faßt Putin nur in Worte, was der überwiegende Teil der russischen Gesellschaft im Herzen trägt.

Nach Jahren eines als Demütigung empfundenen Niedergangs gibt das inzwischen wieder erstarkte Selbstbewußtsein der Nation auch den alten Glauben an ihren Sonderweg zurück. Mit einem Wort: Was im Westen unter „europäischer Wertegemeinschaft“ verstanden wird, stellt sich in Rußland nur einer Minderheit als erstrebenswert dar.

Das erste russische Staatsgebilde, die Kiewer Rus am Ausgang des ersten Jahrtausends, war noch eng in das damalige Europa eingebunden. Kiewer Prinzessinnen waren an den Höfen als Bräute hochbegehrt. Mitte des 13. Jahrhunderts allerdings, mit dem Beginn der zweihundertjährigen Mongolenherrschaft, wurde die Entwicklung in Rußland von der westeuropäischen abgekoppelt. Reformation und Renaissance, auch die Herausbildung partizipativer Herrschaftsformen blieben ihrem Wesen nach im Osten ohne Niederschlag.

Erst Peter der Große hat das Land in einer despotischen Hauruck-Aktion an die Neuzeit herangeführt. Ein zweiter, „Modernisierer“, wenn man so will, war gut zwei Jahrhunderte später Josef Stalin – ebenso despotisch, dazu mit den grausamen Methoden des 20. Jahrhunderts. Ohne die Zwangsindustrialisierung der russischen Gesellschaft hätte es eine Weltmacht Sowjetunion nie gegeben, auch keinen Sieg über die deutsche Wehrmacht, keine Atombombe und keinen Gagarin im All.

Geblieben ist ein zwiespältiges Verhältnis aus Mißtrauen und Anziehung. Das gilt für den Westen genauso wie für Rußland selbst. In der Sowjetunion bedurfte es keiner Propaganda, damit das Volk die Nato als potentiellen Eroberer wahrnahm.

Man muß die gegenwärtige russische Politik auch aus dieser Perspektive betrachten. Die Nato-Expansion im Baltikum, das Tauziehen um die Zugehörigkeit der Ukraine und Georgiens zur eigenen Einflußsphäre, die Installation des Nato-Raketenabwehrschirms vor der russischen Westgrenze und seit Herbst 2012 schließlich ein ständiges Kontingent der US-Luftwaffe in Polen – das sind Schritte, die dem westlichen Publikum als harmlos verkauft werden, in Rußland hingegen tiefes Unbehagen wecken.

Quer durch alle sozialen Schichten reagiert die russische Gesellschaft sensibel, wenn sie Einmischung von außen wähnt. Im Kampf gegen „fünfte Kolonnen“, aus dem Ausland geführt und finanziert, kann jeder russische Präsident auf die Unterstützung seiner Bürger rechnen. Das um so mehr, wenn der amerikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney, Rußland öffentlich als Amerikas Feind Nummer eins bezeichnete.

Die Abgrenzung gegenüber den USA ist ein Grundton der Putin-Präsidentschaft. Der Großteil der russischen Elite ist überzeugt, daß Washington ihr Land zwar nicht mehr als Gegner auf Augenhöhe, doch weiter als ernstzunehmenden Störenfried bei der Umsetzung der amerikanischen „Grand Strategy“ betrachtet. Um so lustvoller spielt der Kreml die eurasische Karte. Neben dem Hegemonieanspruch im postsowjetischen Raum ist sie einer der russischen Trümpfe im außenpolitischen Spiel.

Wladimir Putin, der Deutsch spricht und als Bewunderer der Deutschen gilt, hat zu Beginn seiner Amtszeit lange auf die Achse Moskau-Berlin gesetzt. Das entspricht einer Tradition der russischen Politik, die dem Angelsächsischen gegenüber fremdelt und sich mit Deutschland wesentlich leichter tut. Selbst seit dem Abgang Gerhard Schröders, des letzten seiner Männerfreunde, bleibt Putin Deutschland nostalgisch verbunden.

Was der russische Präsident ebenso wie viele seiner Landsleute übersehen hat, sind die Veränderungen innerhalb der deutschen Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten. In Deutschland bezeichnet man diesen Prozeß gemeinhin als Modernisierung; nicht wenige Russen benutzen für denselben Vorgang das Wort Verfall.

Die Mutmaßung, daß allein Präsident Wladimir Putin für die Kälte in den Beziehungen zu Rußland verantwortlich sei, mag sich noch als großer Fehler herausstellen. Mit dem einseitigen Bekenntnis zum Westen als Gradmesser von Gut und Böse in der Politik vergibt Deutschland die Chance, im Verhältnis zu Rußland gerade unter diesem Präsidenten vermittelnd und beschwichtigend zu wirken. Sein Nachfolger – und der gelangt vielleicht schon vor 2018 ans Ruder – könnte in dieser Hinsicht aus ganz anderem Holz geschnitzt sein.

Einundzwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist es Zeit, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Was ist aus der Weltmacht geworden? Welche Interessen verfolgt Rußland? Wie ist das Verhältnis zu den Nachbarn? Teil eins der Reihe beschäftigt sich mit dem Verhältnis Rußlands zum Westen. Es folgen Rußland und das Baltikum, Rußlands Beziehungen zur Ukraine/Weißrußland, Moskaus Kaukasuspolitik sowie dessen Politik in Zentralasien.

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