© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/13 / 11. Januar 2013

Versteckter Hinweis
Euro-Rettungsfonds ESM: Befürchtet das Bundesverfassungsgericht den Verlust des deutschen Stimmrechts?
Wolfgang Philipp

In diesem Jahr soll die endgültige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Euro-Rettungsfonds ESM fallen. Der Vertrag trat zwar bereits am 27. September 2012 in Kraft, aber das Urteil dürfte dennoch für einige Überraschung sorgen. Denn unter Ziffer 293 seiner Eilentscheidung vom 12. September 2012 zum ESM-Vertrag beschreibt das deutsche Höchstgericht die haushaltsrechtliche Behandlung der von Deutschland übernommenen Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem ESM.

Es stellt die Frage, „ob diese Handhabung mit hinreichender Sicherheit gewährleistet, daß die Bundesrepublik Deutschland sämtlichen, auch kurzfristigen Kapitalabrufen (Artikel 9 Absatz 3 ESMV) nachkommen und einen Verlust der Stimmrechte ausschließen kann“. Die Beantwortung dieser Frage „muß der Entscheidung über die Hauptsache vorbehalten“ bleiben. Die Wichtigkeit und Tragweite dieser Problematik ist bisher in der Öffentlichkeit so gut wie nicht erörtert worden. Wo genau das Bundesverfassungsgericht hier das Problem sieht, ist nicht bekannt, doch gibt es dazu immerhin naheliegende Überlegungen:

Deutschland hat durch den Beitritt zum ESM Anteile mit einem Nennbetrag von rund 190 Milliarden Euro gezeichnet, das sind 27,1 Prozent des Gesamtkapitals von 700 Milliarden Euro. Da es sich um eine uneingeschränkte Einlageverpflichtung handelt, wäre es denkbar, vielleicht sogar rechtlich geboten, den gesamten gezeichneten Betrag von rund 190 Milliarden Euro schon im Bundeshaushalt 2012 als Neuverschuldung gegenüber dem ESM auszuweisen. Eine solche gigantische Neuverschuldung hätte aber die Bundesregierung politisch möglicherweise nicht überstanden. Sie vertritt wohl deshalb die Auffassung, es müßten nur die jeweils in einem Jahr konkret einzuzahlenden Teilbeträge (im Jahre 2012 rund 8,6 Milliarden Euro) als Neuverschuldung ausgewiesen werden, der Rest könne als „Gewährleistung“ zunächst haushaltsrechtlich außer Betracht bleiben.

Diese beiden haushaltsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten sind vor dem Hintergrund zu betrachten, daß nach Artikel 4 Absatz 8 des ESM-Vertrages ein Mitglied, welches seinen Zahlungsverpflichtungen im Zusammenhang mit übernommenen Stammeinlagen nicht pünktlich nachkommt, seine sämtlichen Stimmrechte durch Aussetzung so lange verliert, bis die Zahlung erfolgt ist. Diese Wirkung tritt nach Ziffer 262 der Urteilsgründe automatisch ein, ohne daß es noch irgendeiner Verhandlung oder Beschlußfassung bedarf. Es handelt sich also um eine scharfe Sanktion, deren Eintritt für Deutschland den „größten anzunehmenden Unfall“ seiner Europapolitik bedeuten würde: Dann könnten die ESM-Gremien auch ohne Mitwirkung Deutschlands dieses schwer belastende Entscheidungen treffen.

Verursacht Fristversäumnis schon Stimmrechtsverlust?

Das Problem liegt darin, daß nicht übersehbar ist, ob und wann der ESM weitere Einzahlungen der Mitgliedsstaaten auf das Stammkapital fordert. Dies kann nach dem ESM-Vertrag auch mit sehr kurzen Zahlungsfristen verbunden werden; Paragraph 9 Absatz 3 ESMV sieht für bestimmte Abrufe gar nur eine Zahlungsfrist von sieben Tagen nach Eingang der Aufforderung vor.

Geht bei der Bundesregierung eine solche Zahlungsaufforderung ein, so wird sich in aller Regel die Notwendigkeit ergeben, einen Nachtragshaushalt zu verabschieden, um die nach der Verfassung gebotenen innerstaatlichen Regeln einzuhalten. Nachtragshaushalte sind oft eine schwierige Sache: Sie können erhebliche Diskussionen auslösen und bis zu ihrer Verabschiedung lange Zeit beanspruchen. Auch geht es hier um weit in die Zukunft reichende Vorgänge, die nicht nur den gegenwärtigen, sondern auch spätere Bundestage betreffen. Dann können die Mehrheitsverhältnisse anders sein, und es kann geschehen, daß ein Nachtragshaushalt überhaupt nicht oder erst mit Verzögerung zustande kommt. Ist das der Fall, dann geschieht, was das Bundesverfassungsgericht befürchtet: Deutschland verliert wegen Fristversäumung sein Stimmrecht im ESM.

Hätte hingegen die Bundesregierung bzw. der Bundestag die Gesamtverpflichtung von etwa 190 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt 2012 aufgenommen, könnte dieses Problem nicht entstehen: Die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen wären ein für allemal gegeben und der Bund müßte sich lediglich innerhalb der gesetzten Frist um eine Kreditaufnahme bemühen, um die Zahlungen an den ESM zu leisten. Das ist in aller Regel kurzfristig möglich. Diese Kreditaufnahme wäre keine „Neuverschuldung“, sondern nur die Umschuldung eines bisher vom ESM dem Mitglied gewährten Kredits in einen von einer Bank gewährten Kredit.

Der hier jeweils denkbare Konflikt könnte theoretisch dadurch vermieden werden, daß der deutsche Bundesfinanzminister, der gleichzeitig nach dem ESM-Vertrag Mitglied des Gouverneursrats ist, dort die Abrufe so steuert, daß jeweils der Bundeshaushalt rechtzeitig durch Nachtragshaushalte korrigiert werden kann. Dann würde aber generell die Tätigkeit des ESM von den jeweiligen Prozeduren der Haushaltsgesetzgebung in den Mitgliedsländern abhängen. Das könnte bis zur vollständigen Lähmung des ESM führen. Hier wird deutlich, daß die Benennung der Finanzminister der Mitgliedsstaaten zu Gouverneuren schwerwiegende Interessenkollisionen hervorrufen kann. In der „Personalunion“ zwischen den Finanzministern und den Gouverneuren des ESM wird die Lösung des hier im Raum stehenden Konflikts kaum zu finden sein.

Es wird interessant sein zu sehen, wie das Bundesverfassungsgericht mit dieser verfahrenen Lage umgehen wird. Wenn es verlangen sollte, zur Sicherung des Stimmrechts doch im Haushalt 2012 die gesamte Einlageverpflichtung auszuweisen, käme auch für das deutsche Volk die Wahrheit ans Licht. Denn es handelt sich der Sache nach ohne Zweifel um eine Neuverschuldung in dieser Höhe, die der Bund im Haushalt nicht offen zeigt: Der Wahlkampf 2013 läßt grüßen.

 

Europäischer Stabilitätsmechanismus

Da die Milliardenpakete und der erste Rettungsfonds EFSF (JF 41/11) für die Euro-Rettung nicht ausreichten, hat der EU-Rat die Einrichtung des dauerhaften Rettungsfonds ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) beschlossen. Nachdem Eilanträge gegen den ESM im September 2012 vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterten, trat der Vertrag in Kraft. Die endgültige Entscheidung zum ESM will das Verfassungsgericht in diesem Jahr fällen. In Österreich hat die Kärntner Landesregierung im Oktober 2012 ihre Verfassungsklage gegen den ESM-Vertrag eingereicht. Damit der ESM 500 Milliarden Euro an Krediten auszahlen kann, muß er mit 700 Milliarden Euro ausgestattet werden, wobei 620 Milliarden Euro zunächst als Garantie vorliegen, 80 Milliarden als Bareinlage. Auf Deutschland entfallen 190 Milliarden Euro – 22 Milliarden davon in bar. Zwei der fünf fälligen Raten wurden bereits 2012 eingezahlt. In diesem Jahr folgen zwei und 2014 die letzte Rate.

Offizielle ESM-Vertragstexte: www.verfassungsbeschwerde.eu

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