© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/13 / 11. Januar 2013

Ein Fall für den Seelenklempner
Wecken statt Schrippen: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse nerven die in seinen Kiez zugezogenen Schwaben
Ronald Berthold

Vielleicht hat Wolfgang Thierse zum Ende seiner langen politischen Karriere doch noch Bahnbrechendes geschafft. Wenn der SPD-Politiker schon nicht in die Geschichtsbücher kommt, so kann er nun berechtigterweise darauf hoffen, in der psychologischen Literatur einen Platz zu finden. Ein ganzer Berufsstand angehender Seelenklempner kann nun analysieren, was hinter dem unansehnlichsten Vollbart deutscher Gegenwart tatsächlich vorgeht. Ist er möglicherweise der Prototyp des gespielten Fackelträgers der Weltoffenheit, aus dem irgendwann seine tief in ihm schlummernde Xenophobie ausbrechen mußte?

Seine Ausfälle gegen nach Berlin-Prenzlauer Berg zugezogenen Schwaben könnten dafür sprechen. Daß in seinem Kiez nun statt „Schrippen“ auch hin und wieder „Wecken“ verlangt werden, lastet so schwer auf dem selbsternannten Moralapostel, daß er ein Interview mit der Berliner Morgenpost zur pauschalen Generalabrechnung mit den Süddeutschen nutzte. Angeblich würden sie seinen kleinen Kosmos rund um den Kollwitzplatz überfluten. Was reitet den Mann, der über Schlesien und Thüringen selbst erst nach Berlin zugezogen ist?

Im Sinne von Thierses Ruf als Kämpfer für Humanität und gegen Fremdenhaß können wir nur glücklich sein, daß nicht massenweise Türken und Araber in seinen Kiez gezogen sind. Wie hätten die Tiraden dann ausgesehen? Oder was wäre, wenn der 69jährige in Neukölln zu Hause wäre? Wenn sich der arme Wolfgang dann so plötzlich und unerwartet darüber aufregt, daß es weder Schrippen noch Wecken gibt – sondern nur noch Fladenbrot? Müßten dann vielleicht sogar Heinz Buschkowsky und Thilo Sarrazin ihren Genossen zur Ordnung rufen? Weil das, was der olle Wolle vom Stapel gelassen hat, selbst diesen Freidenkern zu weit geht?

Ja, Thierse ist wirklich ein Paradefall für die Psychologie. Was muß sich in diesem Mann aufgestaut haben? Was hat jahrelanges Verdrängen der in ihm schlummernden Ressentiments aus ihm gemacht? Könnte er vielleicht als warnendes Beispiel für jene Berufspolitiker dienen, die stets gegen ihr eigenes Empfinden und das ihrer Wähler palavern?

Wahrscheinlich ist die Antwort auf diese Fragen ganz einfach: Wolfgang Thierse leidet so sehr unter seiner Spießigkeit, daß er sie zwanghaft hinter moralintriefenden Sprüchen verstecken mußte.

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