© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/13 / 11. Januar 2013

Der Flaneur
Ein Lied im Ohr
Josef Gottfried

Es sind nur billige Kopfhörer. Die Umgebung, die Autos, die unsanierten Fassaden und die Türen der Straßenbahn: „Es fängt alles von vorne an, der Wind treibt uns fort und dann ... reden wir. Genau wie bisher. Von unserem Leben.“

Die Gegend dringt an mein Ohr, durch das Lied, das ich immer wieder höre, ich suche meine Viererkarte, linke Hosentasche, rechte Hosentasche, rechte Jackentasche, da ist sie, die Straßenbahn biegt ab, ich wanke kurz und führe die Mehrstreifenkarte in den Entwerter, letztes Feld. Draußen ist es dunkel, ich kann mich in der Scheibe sehen und schaue nach, wie gut ich aussehe – gut, sehr gut.

Gisbert singt, wieder und wieder dieses Lied: „Wir fühlen uns trostlos, gelangweilt und verprellt – von den tanzenden Menschen.“ Von denen in der Straßenbahn, den Mädchen, die sich rausgeputzt haben und feiern wollen, die gut riechen und laut sind, nach kräftig aufgetragenem Eau de toilette, Red Bull und süßem Sekt aus der herumgereichten Flasche; jetzt untermalen sie den Liedermacher und bemerken mich nicht einmal.

Ich verdrehe die Augen, so fest ich kann, bis man von außen nur noch das Weiße sieht, da kommt wieder diese Übelkeit, die den Aufstieg ankündigt, endlich wieder das Pochen der pulsierenden Zentren auf der Landkarte, die wir mit Europa beschriften, es ist, als ob ich fliege, nein, ich fliege wirklich, und alles wird mir klar, die Mädchen, Gisbert, ich, „wir sehen gut dabei aus, und wir tun es mit Stil“, wir sind Laub, Dampf, Tropfen oder so etwas in einem prachtvollen Wetterphänomen, laß uns doch mitfliegen, bitte, komm doch mit, wir wollen fliegen! Fliegen! Und wir fliegen, „wir gehen in die Kinos, in die Kneipen, und wir tanzen. Und wir hoffen, daß noch so viel passiert.“ Komm schon, hab dich nicht so, wir machen alle mit. Es wird gut sein, wirklich gut.

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