© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/13 / 18. Januar 2013

Doppeladler der Aufklärung
Weimarer Klassik: Zum Gedächtnis des Rokoko-Schriftstellers Christoph Martin Wieland
Günter Zehm

Sorgt immer für den Augenblick / und laßt Gott für die Zukunft sorgen!“ Und: „Die Herren dieser Welt blend’t zu viel Licht, / Sie seh’n den Wald vor lauter Bäumen nicht“. Das sind die zwei wohl bekanntesten Aussprüche von Christoph Martin Wieland – und sie widersprechen sich schneidend. Wer immer nur für den Augenblick sorgt, der sieht ja nur den je einzelnen Baum und nicht den Wald, ob er nun Herr oder Knecht ist. Doch um die Zukunft sollte man sich schon Sorgen machen, auch wenn sie dem simplen Erdenbürger wie ein dichter, dunkler Wald voller Unvorhersehbarkeiten erscheint.

Wieland seinerseits, dessen 200. Todestag am 20. Januar ansteht, war freilich alles andere als ein simpler Erdenbürger, er war ein Genie, das vor sich hin schuf wie die Natur und sich dabei nicht im geringsten um Widersprüche kümmerte. Er war kein Lehrer (obwohl er – weil er kein einziges Genre ausließ – auch Lehrgedichte geschrieben hat), und es machte ihm überhaupt nichts aus, als Prinzenerzieher am Weimarer Hof seinem Schüler, dem nachmaligen historischen Herzog Karl August, mal dieses, mal jenes zu erzählen. Die Welt war bunt, und sie war amüsant.

Geboren wurde Wieland am 5. September 1733 im Pfarrhaus von Oberholzheim, einem schwäbischen Dorf, das damals eine Pfründe des Hospitals zum Heiligen Geist in der freien Reichsstadt Biberach war. Seine Eltern waren der protestatisch-lutherische, pietistisch gesinnte Pfarrer Thomas Adam Wieland und seine Frau Regina Katharina.

Der junge Wieland war ein Wunderkind von geradezu mozartschen Ausmaßen. Schon mit zwölf Jahren dichtete er in lateinischen so gut wie in deutschen Versen, mit 16 hatte er sämtliche römischen Klassiker gelesen, mit 17 schrieb er das Heldengedicht in fünf Gesängen „Hermann“, das ihn in der literarischen Welt bekannt machte und ihm die Einladung von Johann Jakob Bodmer verschaffte, zu ihm nach Zürich zu kommen und mit ihm zusammenzuarbeiten.

Bodmer (1698–1783) war einer der Großmeister der damaligen Literatur, präziser Philologe und pietistischer Schwärmer in einem, genau das, was Wieland angemessen schien. Doch dieser war bereits auf anderen Wegen. 1752 fuhr er nach Zürich – nur um sich peu à peu von Bodmer zu trennen und sich ihm zu entfremden. Es kam die berühmte „Wielandsche Kehre“. Aus dem frommen Schwärmer wurde ein unfrommer Aufklärer. Aus dem Verfasser von Oden à la Klopstock wurde der Verfasser lebensfroh-schlüpfriger Rokoko-Geschichten à la Crébillon fils.

Im deutschenKulturleben fanden diese Häutungen sofort lebhaftes Interesse und wurden auf unterschiedlichste Weise kommentiert. Die Berliner Aufklärer und „Illuminaten“ um Lessing und Nicolai zerstritten sich darüber geradezu. Nicolai kommentierte maliziös: „Wielands Muse, diese hunge Schöne, die bisher die Betschwester spielen wollte, verwandelt sich jetzt in eine Kokotte.“ Lessing war sowohl scharfsichtiger als auch gerechter. „Wieland“, so sein Urteil, „hat die ätherischen Sphären endlich verlassen und wandelt wieder unter Menschen.“ An Wielands neuem Trauerspiel „Lady Johanna Gray“ (Zürich 1758) rühmte er, daß es das erste deutsche Drama in Blankversen war.

Was der Kehre Wielands vor allem widerstand, war sein eingefleischter Philologismus, seine unstillbare Leidenschaft für das literarische Erbe der klassischen Antike. Der Wieland, den das deutsche Publikum nun kennen und achten lernte, war ein Doppeladler: Der eine Kopf blickte auf das aufklärerische Rokoko des 18. Jahrhunderts, der andere auf die antike Überlieferung; beide Bezirke bezauberten den jungen Dichter und weckten in ihm das Verlangen, sie zu vereinen und eine eigene Legierung davon herzustellen.

Eine gewaltige Produktivität setzte ein, Wieland war sowohl Tragödien- wie Komödienschreiber, Verfasser von Briefromanen wie von Singspielen, von philologischen Kampfschriften wie von Operntexten, manchmal alles in einem. Es gab einen „Anti-Ovid oder die Kunst zu lieben“, es gab erfundene „Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde“, fiktive Dialoge etwa mit Sokrates oder Erasmus von Rotterdam, boshafte Kritiken an christtrunkenen Romantikern à la Novalis und, und, und. Die Drucker und Verleger kamen mit der Veröffentlichung gar nicht nach; und so schuf Wieland seine eigene Zeitschrift, den legendären Teutschen Merkur, und füllte ihn vorrangig mit eigenen Werken.

In Erinnerung geblieben ist von all der Aussaat wenig; am ehesten noch der satirische Roman „Die Abderiten. Eine sehr wahrscheinliche Geschichte von Herrn Hofrath Wieland“, welcher von 1774 bis 1780 in Fortsetzungen im Teutchen Merkur erschien, ferner der zweibändige Roman „Geschichte des Agathon“ von 1766, der als „erster deutscher Bildungsroman“ gepriesen wird und Gottfried Keller als Vorbild für seinen „Grünen Heinrich“ diente, schließlich die als Briefroman aufgezäumte historische Untersuchung „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“, ein vierbändiges Riesenwerk, das vor allem Philosophen interessiert.

Vielleicht wären sogar diese Meisterwerke im Orkus des Vergessens verschwunden, wäre Wieland nicht in den Götterhimmel der Weimarer Klassik aufgenommen worden. Dort thront er nun unvertreibbar neben Goethe, Schiller und Herder, er ist von den Olympiern sogar der älteste, elf Jahre älter als Herder, 16 Jahre älter als Goethe, 26 Jahre älter als Schiller. Er war auch der erste, der in Weimar ankam, schon 1772 von der trefflichen Herzoginmutter Anna Amalia zum Erzieher ihrer Söhne berufen und mit einem guten Gehalt versehen, das ihm bis an sein Lebensende erhalten blieb.

Aber es ist merkwürdig: Trotz der sozialen Annehmlichkeiten und trotz des Respekts, den ihm auch seine Mitolympier, die Trias Herder/Goethe/Schiller allzeit entgegenbrachten, umweht den Weimeraner Wieland doch eine Aura der Unzugehörigkeit, eine Differenz, die sich übrigens schon in der Vorweimarer Ära von Goethe kundgab.

Wieland hatte 1773 in seinem Merkur den antiken Tragödienschreiber Euripides getadelt, weil der die „grobschlächtige“ Gestalt des Herkules zur positiven Figur eines seiner Stücke gemacht hatte. Das veranlaßte Goethe zu seiner bekannten Kampfschrift „Götter, Helden und Wieland“, wo er, noch ganz im Stil von Sturm und Drang, die Literatur der Kraftkerle und ungestümen Weltverbesserer vehement verteidigte und dagegen protestierte, daß Wieland sie der Lächerlichkeit preisgebe.

Die Affäre wurde bereinigt, nachdem auch Goethe nach Weimar gekommen war, doch die entscheidende Differenz zwischen beiden (wie auch zwischen Wieland und den übrigen Olympiern) war momentweise scharf zutage getreten. Der Rokokopoet Wieland wollte immer nur den Augenblick rein und anmutig halten und allein die Götter die Zukunft besorgen lassen. Die Trias hingegen wollte sich durchaus einmischen, auch wenn dabei manchmal die Fetzen flogen. Und sie lag damit auf der Seite der anbrechenden Moderne.

Der Dichter Christoph Martin Wieland paßt einfach nicht in die vorüberrollende Zeit. Er ist nicht Teil eines Waldes, er ist eine Individualität, ein prächtiger Einzelbaum, den man extra besuchen muß, wenn man etwas von ihm haben will.

Foto: Ein Abend in der Gartenlaube am Goethe-Haus in Weimar (Holzstich, 1879, nach einer Zeichnung von Heinrich Merte, spätere Kolorierung): Der Dichter Christoph Martin Wieland, seit 1772 Erzieher der beiden Söhne von Herzoginmutter Anna Amalia, mit Friedrich Schiller, Herzog Karl August, Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang von Goethe (v.l.n.r.)

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