© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/13 / 18. Januar 2013

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Zu den weniger diskutierten Sprachkorrekturbemühungen der Familienministerin gehörte der Vorschlag, „das Gott“ statt „der Gott“ zu sagen. Das hilft wenigstens einen allzu penetrant-feministischen Zungenschlag („die Gott“) vermeiden, aber es kann sich als heikel erweisen, daß auf dieselbe Idee wie Frau Schröder schon andere und früher gekommen sind: „‘Das Gott’ heißt es im alten germanischen Sprachgebrauch; und die männliche, persönliche Bezeichnung ‘der Gott’ ist erst durch den Christianismus infolge seiner ganz andersartigen Grundanschauung eingeführt worden. (…) Das Gott ist also unpersönlich, es ist ‘etwas’ und nicht ‘jemand’.“ (Friedrich Murawski: Das Gott. Umriß einer Weltanschauung aus germanischer Wurzel, Theodor Fritsch Verlag, Berlin 1944, Seite 38.)

Die Mängel an der Nord-Süd-Strecke der Kölner U-Bahn, die Kosten für die Hamburger Elbphilharmonie oder Stuttgart 21 und der „grauenhafte“ Zustand des immer noch nicht fertiggestellten Berliner Flughafens – man kann das alles natürlich damit erklären, daß es wegen der Komplexität derartiger Vorhaben gar nicht möglich sei „durchzuplanen“, aber man kann auch vermuten, daß Inkompetenz eine Rolle spielt, oder, wahrscheinlicher noch: Intelligenzmangel.

„So träumt man seit der Kindheit von großen Städten und berühmten Schauplätzen, aber die wirklichen und entscheidenden Schlachten um die Behauptung der eigenen Persönlichkeit und die Verwirklichung alles dessen, was sie in sich birgt, werden dort ausgetragen, wohin das Schicksal den einzelnen wirft, auf Gott weiß welchen engen, namenlosen Raum bar allen Glanzes und aller Schönheit, ohne Zeugen und ohne Richter.“ (Ivo Andric)

Es fällt auf, mit welchem Nachdruck neuerdings die Forderung nach mehr Solidarität erhoben wird: Die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen hat Solidarität „zwischen Männern und Frauen“ angemahnt, Altkanzler Schmidt verlangt eine neue Solidarität in Europa, wenn es um die Schuldenkrise geht, der Vorstand des DGB will eine solidarische Gesellschaft, und der Chef der Charité warnt vor dem drohenden Verlust jeder Solidarität im Gesundheitswesen. Begonnen hat aber alles mit der Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten, der der Nation erklärte, Solidarität sei nur die weltliche Übersetzung für Nächstenliebe. So plausibel das aus dem Mund eines früheren Geistlichen klingen mag, muß man doch anmerken, daß Nächstenliebe ein Akt voraussetzungsloser individueller Zuwendung ist, Solidarität eine zwingende ethische Forderung in Gruppen von Gleichen nach dem Prinzip des do ut des.

Das Interessanteste an der Debatte über den Antisemitismusvorwurf gegen Jakob Augstein durch das Wiesenthal-Zentrum und seinen Gewährsmann Henryk M. Broder ist die Zurückhaltung des Zentralrats der Juden und der meisten prominenten deutsch-jüdischen Vertreter. Man ahnt offenbar, daß in Europa bald ernsthafte Konflikte bevorstehen und es unklug wäre, seine Energie in Scheingefechten zu vergeuden oder Fronten zu eröffnen, wo das nicht nötig ist.

Bildungsbericht in loser Folge XXXII: Die Nachricht, daß allein in Nordrhein-Westfalen 1.200 Schulleiterposten unbesetzt sind und es in den übrigen Bundesländern kaum besser aussieht, hat eine interessante Debatte ausgelöst. Was allerdings keine Rolle spielt und unbedingt einbezogen werden müßte, sind die tieferen Ursachen des Dilemmas: die dramatische Überforderung durch zusätzliche Führungs-, Verwaltungs- und Buchhaltungsaufgaben der „selbständigen Schule“ und die mißliche Position eines Schulleiters zwischen Elternschaft, Kollegium, Lobbygruppen, Administration und politischer Spitze. Erst das erklärt auch, warum es nicht nur um Brennpunktschulen geht, für deren Leitung sich niemand findet, sondern auch um andere, und daß die Lage kaum besser ist, wenn bei Vakanz statt keines Bewerbers nur einer – alternativlos – zur Verfügung steht.

Winterabend im Vorortzug, umgeben von acht Mitmenschen, Pendlern. Alle sitzen in der dumpfen Wärme, abgeschottet gegen die Kälte und Nässe draußen. Niemand unterhält sich, auch nicht die Freundinnen oder Kolleginnen, die später gemeinsam aussteigen. Die einen starren konzentriert auf kleine glänzende Monitore, die sie zärtlich in der abgewinkelten Hand halten, die anderen wirken wie entrückt, gelegentlich wiegen sie den Kopf in einem Rhythmus, den sie und sie allein über die kleinen Knöpfe in ihren Ohren hören. Man könnte sich die Welt vollkommen pazifiziert vorstellen, mittels solcher Apparaturen, was kulturkritische Einwände herausfordert, oder man betrachtet das Verlorensein an die Oberfläche mit der Milde des späten Benn: „Nur noch flüchtig alles.“

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 1. Februar in der JF-Ausgabe 6/13.

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