© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/13 / 18. Januar 2013

Unter der Knute des Zaren
Vor 150 Jahren endete der polnische Januaraufstand gegen die russische Herrschaft in einem Fiasko
Jürgen W. Schmidt

Unter maßgeblichem Einfluß der russischen Zarin Katharina der Großen wurde Polen in den drei polnischen Teilungen von 1772, 1793 und 1795 zwischen Rußland, Österreich und Preußen aufgeteilt und verschwand für über ein Jahrhundert aus der Geschichte.

Kurzzeitig erstand zwar 1807 bis 1813 durch die Gnade Kaiser Napoleons aus einigen vormals polnischen Gebieten ein kleinerer französischer Satellitenstaat, das „Großherzogtum Warschau“, doch wurde dieses größtenteils nach Napoleons Niederlage 1815 gleichfalls von Rußland einverleibt. Als sogenanntes „Kongreßpolen“ (benannt nach dem Wiener Kongreß) bildete jenes „Königreich Polen“, in Personalunion beherrscht durch den russischen Zaren, nunmehr einen Bestandteil des russischen Imperiums.

Ein Versuch der Polen, mittels eines Aufstands in den Jahren 1830/31 die russische Herrschaft abzustreifen, scheiterte nach mehreren Feldschlachten und hohen Verlusten auf polnischer Seite. Der „Novemberaufstand“ von 1830 bewirkte allerdings große Sympathien in Deutschland und in ganz Westeuropa für die Sache der polnischen Freiheitskämpfer, die nach ihrer Niederlage in großer Zahl emigrierten und im liberalen europäischen Bürgertum viele begeisterte Unterstützer fanden.

Rußland dagegen hob nach Niederschlagung des Aufstandes die polnische Verfassung auf, setzte einen Statthalter für Kongreßpolen ein und begann mit der Russifizierung. Verständlich ist, daß Rußland mit solchen Gewaltmaßnahmen nicht das Herz seiner polnischen Untertanen gewinnen konnte und der Gedanke an den Sturz der russischen Herrschaft, auf gewaltlosem Wege allerdings völlig unmöglich, unter den Polen stets lebendig blieb. Da jedoch nach 1832 die frühere polnische Armee, die sich zum allergrößten Teile auf die Seite der Aufständischen gestellt hatte, aufgelöst wurde, war kein den Truppen des Zaren auch nur einigermaßen adäquates militärisches Potential der Polen mehr vorhanden, um dem Unterdrücker neuerlich mit Erfolg die Stirn zu bieten.

Zudem verpaßte man seitens der meist zerstrittenen polnischen Führungseliten die außenpolitisch einmalige Situation des Krimkrieges 1853/56, als das mächtige Rußland unter dem erzkonservativen Zaren Nikolaus I. einer Koalition von Frankreich, England, Sardinien und der Türkei unterlag und die russische Hauptarmee weit von Polen entfernt eine schmerzliche militärische Niederlage hinnehmen mußte. Der Nachfolger von Nikolaus I., der reform-orientierte Zar Alexander II., ließ aus Gründen der Aussöhnung gegenüber den Polen die Zügel der politischen Vorherrschaft seitens Rußland etwas lockern und stellte 1862 den ihm nahestehenden polnischen, doch prorussisch gesinnten Politiker Graf Alexander Wielopolski an die Spitze der Verwaltung von Kongreßpolen.

Doch diese an sich gut gemeinte Maßnahme endete in der Katastrophe des polnischen „Januaraufstandes“ 1863. Um nämlich gefährliche Elemente aus Kongreßpolen zu entfernen, plante Graf Wielopolski, mehrere tausend junge Polen zum russischen Militärdienst einzuberufen, was als letzter, entscheidender Funke zur Auslösung eines bewaffneten Aufstandes diente. Der Aufruhr brach am 22. Januar 1863 aus. Reguläre polnische Truppeneinheiten oder wenigstens größere Waffenvorräte standen den aufrührerischen Polen nicht zur Verfügung. Die Russen dagegen hatten manches aus dem polnischen Aufstand von 1831 gelernt und hielten vor allem die Hauptstadt Warschau, nach der man sich in ganz Polen politisch zu orientieren pflegte, fest in ihren Händen.

Als militärischer Führer des Aufstandes war ein erfahrener Revolutionär und Freischarenführer namens Ludwik Mieroslawski vorgesehen. Als Sohn einer französischen Mutter und eines polnischen Vaters 1814 in Frankreich geboren, besaß der umtriebige Mieroslawski militärische Erfahrungen aus Aufstandsversuchen im preußischen Großherzogtum Posen 1846 und aus den revolutionären Kämpfen in Sizilien 1849, bis er schließlich Mitte 1849 sogar zum zeitweiligen, doch glücklosen Oberbefehlshaber der badischen Revolutionsarmee in Süddeutschland avancierte.

Doch selbst Mieroslawski mit seinen militärisch-revolutionären Erfahrungen konnte das Blatt für die Polen nicht wenden und scheiterte bereits im Februar 1863. Dem polnischen Aufstand fehlte somit eine dominierende Führungspersönlichkeit. Die Polen waren nicht mehr, wie noch 1831 geschehen, in der Lage, dem russischen Heer Feldschlachten oder größere Gefechte zu liefern, sondern mußten sich auf einen Guerillakrieg auf dem platten Lande beschränken, da die größeren Städte diesmal durchweg in russischer Hand verblieben. Russische Truppenkolonnen zogen pausenlos zur Aufstandsbekämpfung im Land umher und jagten die polnischen „Sensenmänner“, die nur zu oft tatsächlich nur über geradegeschmiedete Sensen verfügten, mühelos auseinander.

Ein sich bei den Freischärlern aufhaltender neutraler Beobachter, der Schweizer Oberstleutnant Franz v. Erlach, beschrieb zudem die Motive der polnischen Aufständischen folgendermaßen: „Neben der Vaterlandsliebe und der Neigung zum Waffendienst spielten ohne Zweifel allerlei andere Bewegründe dabei eine große Rolle, namentlich (…) daß sie gut zu essen und zu trinken bekamen.“ Die anfangs 100.000, später sogar 180.000 Mann starken russischen Truppen warfen den Aufstand der jederzeit nie mehr als 30.000 aktive Kämpfer zählenden Polen bis April 1864 völlig nieder. Etwa 30.000 Polen fielen im Kampf, etwa 400 wurden hingerichtet, darunter der letzte polnische „Diktator“, ein früherer russischer Oberstleutnant namens Romuald Traugutt. 29.000 Polen kamen in Gefängnisse und Zuchthäuser, in Militärstrafkompanien oder wurden nach Sibirien verbannt. Das Polnische wurde aus den Amtsstuben des Zarenreichen völlig verdrängt, sogar die geographische Bezeichnung Polen wird in offiziellen Karten in den Jahren danach häufig gemieden und durch die Bezeichnung „Weichselland“ ersetzt.

Der damalige preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck ließ durch dichte Militärkordons die Außengrenzen der Provinzen Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien zu Rußland abschirmen, um den preußischen Polen die Lust zu nehmen, sich am Aufstand in Kongreßpolen aktiv zu beteiligen oder die Aufständischen zu unterstützen. Durch den preußischen Sondergesandten General Gustav von Alvensleben wurde kurz nach Aufstandsbeginn mit dem russischen Vizekanzler Alexander Fürst Gortschakow in Petersburg am 8. Februar 1863 die „Alvenslebensche Konvention“ unterzeichnet, welche es den russischen und pro forma auch den preußischen Truppen erlaubte, bei der Verfolgung polnischer Aufständischer notfalls auch mal kurzzeitig die Grenze zum Nachbarstaat zu überschreiten. Es war ein sehr erfolgreicher diplomatischer Schachzug Bismarcks. Der für diese Unterstützung dankbare russische Zar wahrte nämlich wegen dieses ungewöhnlich weiten Entgegenkommens während der drei Einigungskriege von 1864, 1866 und 1870/71 Preußen gegenüber jeweils eine wohlwollende Neutralität.

Kongreßpolen unterstand ab 1864 einer schärferen russischen Kontrolle als je zuvor und die Maßnahmen zur Russifizierung wurden fortgeführt, ohne bei den nationalstolzen Polen – die ohnehin durch den Rückhalt der katholischen Kirche wenig Beziehung zum orthodoxen „Dritten Rom“ hatten – je größere Erfolge zu erzielen. Ein zunächst ziemlich künstlicher polnischer Staat erstand erst wieder während des Ersten Weltkriegs im Jahr 1916, als Deutschland und Österreich-Ungarn das Territorium des früheren Kongreßpolen besetzt hatten und nun nach Proklamierung eines „Königreichs Polen“ vergeblich auf die Hilfe von Millionen polnischer Freiwilliger im Kampf gegen den russischen Zaren hofften.

Den „Dank“ für jene völlig verfehlte Staatsgründung bekam das militärisch unterlegene Deutschland nach der Novemberrevolution 1918 zu spüren, als sich der junge polnische Staat blitzschnell auf die Seite der alliierten Siegermächte schlug und nicht zuletzt durch Roman Dmowski und den späteren Ministerpräsidenten Jan Paderewski (polnische Verhandlungsführer in Versailles 1919) eine dezidiert anti-preußische bzw. antideutsche Orientierung bekam. Mit französischer Unterstützung bemühte sich die junge Republik Polen in Versailles sehr erfolgreich, sich möglichst großer – und nicht unbedingt nur polnisch besiedelter – Gebiete der Provinzen Posen, Westpreußen und Schlesien zu bemächtigen. Damals wurde die Grundlage zu einem schweren deutsch-polnischen Konflikt gelegt, der schließlich im Jahr 1939 einen blutigen Austrag finden sollte.

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