© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/13 / 18. Januar 2013

Mission zur Selbstabschaffung
Verblüffende Antworten auf die Frage „Wozu noch preußische Geschichte?“
Matthias Bäkermann

Um die Erforschung der Geschichte Preußens „zu einem modernen und wieder lebendigen Arbeitsgebiet“ zu machen, hat die Alfred-Freiherr-von-Oppenheim-Stiftung an der Berliner Humboldt-Universität einen Lehrstuhl eingerichtet, auf den zum Wintersemester 2011/12 der Würzburger Neuhistoriker Wolfgang Neugebauer berufen wurde. Die akademische Heimat des 1953 in West-Berlin geborenen Wissenschaftlers ist die Freie Universität in Dahlem, wo er promovierte, sich bald nach der „Wende“ habilitierte und sich als „Preußenforscher“ profilierte. Seine im Dezember 2011 gehaltene, nun publizierte Antrittsvorlesung „Wozu preußische Geschichte im 21. Jahrhundert?“ schöpft daher aus einem reichen Erfahrungsschatz, der ein solides Fundament für den darin programmtisch formulierten Aufbruch zu neuen Ufern hätte sein können.

Stattdessen verirrt sich Neugebauer bei der in seinem Metier üblichen Legitimationsbeschaffung in verblüffend Randständiges. Möchte er doch Preußen zukünftig in einen europäischen, wirtschaftshistorisch womöglich sogar in einen globalen Rahmen stellen, es zum Gegenstand „transnationaler Geschichtsforschung“ machen. Dabei gelte es die zumindest bis weit ins 19. Jahrhundert geschichtsmächtigen „multiplen Loyalitäten“ und die „durchlöcherten mentalen Landschaften“ aufzuspüren und darzustellen, wie „fragil“ der preußische Staat gewesen sei. Denn im Bewußtsein seiner Untertanen habe sich dieses „polyethnische“ Staatsgebilde keineswegs so fest verankern können, wie die preußische Historiographie seit Ranke, Droysen und Treitschke es gern darstellte. Tatsächlich spiegele gelungene Integration infolge der Identifikation mit einem starken und geschlossenen Gemeinwesen bei genauer Analyse eben nur die „Außensicht“ auf diesen Staat wider.

Diese Variante einer Preußenforschung, die den Staat als von „erstaunlicher Fragilität“ beschreibt, die Loyalitäten in ständiger Bewegung, Identitäten ineinander „überlappen“ sieht, ist keineswegs zufällig just zur Stelle, um die seit langem von der Räson der Bonner wie der Berliner Republik geforderte, in der Euro-Krise offen propagierte Auflösung von Staat und Nation „in Europa“ als Normalität preußisch-deutscher Geschichte erscheinen zu lassen. Wie der Borusse Johann Gustav Droysen einst den auf die Reichsgründung von 1871 zusteuernden „deutschen Beruf“ Brandenburg-Preußens bereits im 15./16. Jahrhundert entdecken wollte, so zaubert der auf primär ständische Fliehkräfte fixierte Anti-Borusse Neugebauer jetzt Preußens europäische Mission aus dem Hut, die seit der Frühen Neuzeit angeblich auf Dekomposition und letztlich auf Selbstabschaffung gepolt war.

Allerdings: Aus den Zonen des Ernstfalls, von den Schlachtfeldern zwischen Fehrbellin und Tannenberg, Kunersdorf und Kursk, ist nichts überliefert, was „multiplen Loyalitäten“ oder „Grenzen der Identifikation“ ähnelt, nichts, was Fontanes Gendarm Uncke im „Stechlin“ das „Zweideutige“ nennt. Es läuft daher mit Neugebauers „gemischten Untertanen“, in deren Köpfen die preußischen Grenzen nur „schwach markiert“ gewesen sein sollen, wohl darauf hinaus, Marginales ins Zentrum zu rücken. Deshalb gerät auch eine Ausnahme, das kurzzeitige Arrangement der ostpreußischen Stände mit den russischen Besatzern während des Siebenjährigen Krieges, in diesem Modell beinahe zur Regel.

„Europäische Dimensionen“ der Geschichte Preußens sind seit langem kein Wunschkonstrukt mehr. Preußenforschung „im 21. Jahrhundert“ kann sich damit also kaum neu in Szene setzen. Das gilt wohl nicht für die Froschperspektive einer Forschung, die mit dem Aufpumpen nebensächlicher, durch „Verflechtungsstrukturen“ und „Globalisierungsimplikationen“ bedingte Irritationen des Wir-Bewußtseins an der „Entmythologisierung“ eines fest gefügten, leistungsfähigen Staates und dessen historischer Kontinuität arbeitet. Wem es, wie Neugebauer bekennt, schwerfalle, vom „Preußentum“ und „spezifisch preußischen Qualitäten“ zu sprechen, dessen „moderne“ Richtung benötigt Preußen eigentlich gar nicht mehr. Sie könnte sich ihre Prämissen von der Geschichte jedes beliebigen Gemeinwesens bestätigen lassen, zum Beispiel von Mittelerde oder Taka-Tuka-Land.

Wolfgang Neugebauer: Wozu preußische Geschichte im 21. Jahrhundert? Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2012, broschiert, 85 Seiten, 14 Euro

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