© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/13 / 25. Januar 2013

Schwarze Hypothesen
NSU-Ausschuß: Die Rolle des Verfassungsschutzes in Thüringen wirft zahlreiche Fragen auf
Marcus Schmidt

Mario Melzer wundert sich noch heute. Darüber, daß Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe Anfang 1998 auf einen Schlag verschwinden konnten, ohne eine verwertbare Spur zu hinterlassen. Der Kriminalhauptmeister des Landeskriminalamtes Thüringen weiß, wovon er spricht. Als Mitarbeiter der Soko Rechtsextremismus, kurz „Soko Rex“, kannte er das Trio aus nächster Nähe. Das plötzliche Verschwinden der drei habe ihn nie losgelassen, berichtete Melzer in der vergangenen Woche vor dem NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestages. Und er machte deutlich, daß er mit der Vermutung, Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe könnten bei ihrem Abtauchen gedeckt worden sein, in der Thüringer Polizei nicht alleine stehe. So mancher halte es für möglich, daß das Landesamt für Verfassungsschutz seine Hand schützend über die drei gehalten habe.

Mit Beginn des neuen Jahres hat der vor einem Jahr vom Bundestag eingesetzte Berliner NSU-Ausschuß den Ursprung der mutmaßlichen rechtsextremistischen Terrorguppe, der Morde an neun türkischen und griechischen Gewerbetreibenden, einer Polizistin sowie zwei Sprengstoffanschläge und Banküberfälle zur Last gelegt werden, in den Blick genommen. Nachdem die Abgeordneten im vergangenen Jahr die einzelnen Taten untersucht hatten, versuchen sie nun zu ergründen, welche Versäumnisse der Thüringer Sicherheitsbehörden dazu geführt haben, daß die drei Rechtsextremisten aus Jena untertauchen und jahrelang unerkannt morden konnten. Bereits in der ersten Sitzung zum Komplex Thüringen wurde deutlich, daß auch hierbei die Rolle des Verfassungsschutzes im Mittelpunkt stehen wird.

Schon der Anlaß für das Untertauchen des Trios, die Durchsuchung dreier von ihnen angemieteter Garagen am 26. Januar 1998 in Jena, von der eine als Bombenwerkstatt diente, wirft immer noch zahlreiche Fragen auf. Für Melzer lesen sich die Berichte über die verkorkste Durchsuchung, bei der es unter anderem zu Verzögerungen kam, weil die Garage mit dem Sprengstoff durch ein Vorhängeschloß gesichert war und von der Polizei zunächst nicht geöffnet werden konnte, heute „wie das Drehbuch für einen ganz schlechten amerikanischen Krimi“. Infolge der Konfusion gelang es damals Böhnhardt, dem der Durchsuchungsbeschluß ausgehändigt worden war, sich abzusetzen und Zschäpe und Mundlos zu warnen. Dies alles bezeichnete der LKA-Beamte rückblickend als „sehr, sehr seltsam“. Die Kritik an der Durchsuchung habe schließlich zu seiner Versetzung in eine andere Abteilung geführt.

Der Obmann der Grünen im Ausschuß, Wolfgang Wieland, faßte die von Melzer geäußerten Vermutungen, Andeutungen und Gerüchte griffig zusammen: Demnach könnten die drei die Garagen mit Wissen des Verfassungsschutzes angemietet haben. Als das Trio damit begonnen habe, Bomben zu basteln, sei es dem Geheimdienst aber zu heiß geworden und er habe der Polizei einen Tip gegeben. Da allerdings eine Festnahme von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe verhindert werden sollte, habe man ihnen beim Untertauchen geholfen.

Beweise für diese Theorie, die Wieland als „schwarze Hypothese“ bezeichnete, gibt es bislang indes nicht. Und doch ist der Untersuchungsausschuß in den Akten auf ein brisantes Dokument gestoßen, das dieses Gedankenkonstrukt nicht völlig absurd erscheinen läßt. CDU-Mann Clemens Binninger zitierte die Aussage eines ehemaligen Mitarbeiters des Thüringer Verfassungsschutzes vor der sogenannten Schäffer-Kommission, die mögliche Verfehlungen der Thüringer Behörden im Zusammenhang mit dem NSU aufklären sollte. Demnach hat der Verfassungsschutz in Thüringen noch kurz vor dem Untertauchen Anfang 1998 eine Anwerbung Beate Zschäpes geprüft. Da dem Verfassungsschutz jedoch bekannt gewesen sei, daß Zschäpe damals Drogen konsumiert habe, sei von einer Verpflichtung als Informantin abgesehen worden. „Das war uns zu wackelig“, gab der Verfassungsschützer laut Binninger bereits im vergangenen Jahr zu Protokoll. Schon im Sommer war der FDP-Obmann Hartfrid Wolff in den Akten auf Hinweise für einen Anwerbeversuch einer Frau gestoßen, die wie Zschäpe „Katzenliebhaberin“ war. Damals war er von seinen Kollegen im Ausschuß noch mit dem Hinweis zurückgepfiffen worden, zunächst müßten die Akten aus Thüringen ausgewertet werden – und aus diesen stammt nun das besagte Protokoll.

Welche Rolle also spielte der Thüringer Verfassungsschutz? Auch Oberstaatsanwalt Gerd Michael Schultz aus Gera, der mehrfach gegen die mutmaßlichen Mitglieder des späteren NSU ermittelt hatte, berichtete dem Ausschuß, ihm sei es merkwürdig vorgekommen, daß die drei blitzartig verschwanden und alle Spuren ins nichts führten.

Auf Anregung der Zielfahndung, die vom Thüringer LKA auf das Trio angesetzt war, und die, obwohl sie zu den besten in Deutschland gezählt wurde, Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nicht auf die Spur kam, entschloß sich Schultz zu einem ungewöhnlichen Schritt: Er schrieb einen Brief an das Landesamt für Verfassungsschutz, in dem er um Aufklärung bat, ob das Landesamt etwas mit dem Verschwinden der drei Rechtsextremisten zu tun habe. Ein, wie Schultz vor dem Ausschuß einräumte, absolut ungewöhnlicher und einzigartiger Vorgang. Die Antwort de sVerfassungsschutzes auf die rund 20 Fragen in dem Brief fiel kurz und knapp aus und wurde mündlich überbracht. Sie lautete: nein.

Ihn habe die Antwort nicht überrascht, sagt Schultz heute. Er habe sich damals gedacht: „Entweder weiß des Verfassungsschutz wirklich nichts, oder er hat etwas damit zu tun – dann werden sie auch nichts sagen.“ Was genau er den Verfassungsschutz in dem Brief gefragt hat, weiß Schultz heute übrigens nicht mehr. Das ist ärgerlich, denn in den Akten wurde das Schriftstück bislang auch nicht gefunden. Weder beim Verfassungsschutz noch als Kopie bei der Staatsanwaltschaft Gera. Der Brief ist verschwunden.

Foto: Linksextremistischer Aufkleber mit Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos: „Schlechter Krimi“