© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/13 / 25. Januar 2013

Kapituliert wird nicht
Stalingrad: Begleitet von Durchhalteparolen, falschem Stolz und herbem Realitätsverlust der Führung ging vor 70 Jahren die deutsche 6. Armee unter
Guntram Schulze-Wegener

Hitler ahnte die nahende Katastrophe, als er bei einer Lagebesprechung am 12. Dezember 1942 gegenüber dem Chef des Generalstabes des Heeres, General der Infanterie Kurt Zeitzler, bemerkte: „Wenn wir das (Stalingrad) preisgeben, geben wir eigentlich den ganzen Sinn dieses Feldzuges preis.“ Und den Krieg, möchte man hinzufügen.

Nach der sowjetischen Operation „Uranus“ ab 19. November 1942 und der Vereinigung von Verbänden der Roten Armee bei Kalatsch drei Tage später war der Ring um 260.000 deutsche und mit ihnen verbündete Soldaten in der Metropole an der Wolga geschlossen. Die Armeeführung befahl daraufhin ein „Einigeln“ der Truppe und beantragte bei Hitler die Erlaubnis zum Ausbruch nach Südwesten. Bereits in der Nacht zum 23. November 1942 waren die Planungen konkret und nach den Vorstellungen der Kommandierenden Generale im Bereich der 6. Armee auch umsetzbar.

Aber am Nachmittag desselben Tages entschied Hitler, die Eingeschlossenen bei gleichzeitiger Luftversorgung durch eine Operation („Wintergewitter“) unter dem ebenso bewährten wie beliebten Generalfeldmarschall Erich von Manstein zu entsetzen.

Neben Prestigegründen – eine Flucht ausgerechnet aus Stalingrad wäre einer der Öffentlichkeit kaum zu vermittelnden Verzweiflungstat gleichgekommen – bestimmte Hitlers Entschluß die erfolgreiche Luftbrücke in den Kessel von Demjansk wenige Monate zuvor, die Zusage von Reichsmarschall Hermann Göring, täglich fünfhundert Tonnen Nachschub einfliegen zu lassen, sowie die mehr als verlockende Aussicht, durch eisernes Halten etwa einhundert feindliche Divisionen an der Südfront zu binden.

Manstein deutete dem Armeeoberkommando gegenüber die von Hitler nach wie vor untersagte Option eines Ausbruchs („Donnerschlag“) an, falls dies die Lage nach einem erfolgreichen Verlauf von „Wintergewitter“ erlauben würde. Es stellt sich allerdings die Frage, ob ein Herausführen von einer Viertelmillion abgekämpfter, unter Schock stehender und mangelhaft versorgter Soldaten aus dem Kessel überhaupt möglich gewesen wäre – bei klirrender Kälte von örtlich bis zu 40 Grad minus, dichtem Schneetreiben und ständiger Gefahr der Berührung mit einem bestens ausgerüsteten und motivierten Feind.

Am 29. November wurde die Verpflegung der kämpfenden Einheiten auf 50 Prozent reduziert, die Luftwaffe konnte trotz aller Anstrengungen nur 90 Tonnen einfliegen. Überlebensparolen machten die Runde: „Drum haltet aus, der Führer haut uns raus“, und Manstein gab die Anweisung, „sich auf den Ausbruch vorzubereiten“ – gut gemeint, aber doch phrasenhaft, weil dafür nur theoretische Chancen bestanden.

Die Beförderung des Oberbefehlshabers der 6. Armee, General der Panzertruppe Friedrich Paulus, zum Generaloberst tags darauf zielte in dieselbe Richtung: halten, aushalten, durchhalten, bis Manstein am frühen Morgen des 12. Dezember mit dem ersehnten Vormarsch unter anderem der 4. Panzerarmee (Generaloberst Hoth) mit Luftunterstützung des IV. Fliegerkorps losschlug.

Die Panzer hatten sich bereits bis auf 48 Kilometer an die Stadt herangearbeitet; dann scheiterte der Entsatzversuch an dem Gegner, der unterdessen beharrlich Verstärkung erhielt und zur Offensive überging, sowie an der Weigerung Hitlers, der 6. Armee freie Hand zu geben. Ihr Untergang war besiegelt, als Paulus am 8. Januar 1943 die ultimative sowjetische Aufforderung zur Übergabe mit falschem Stolz zurückwies. Zwei Tage später trat die Rote Armee zur Liquidierung des Stalingrader Kessels an. Nach Tashinskaja und Pitomnik verlor die Wehrmacht mit Gumrak am 22. Januar den letzten Flugplatz, mithin das letzte Tor zur Freiheit. Ohne annähernd ausreichende Munition und Versorgung ging die 6. Armee ihrer Vernichtung entgegen.

Laut Befehl von Paulus, der in der Ruine des Kaufhauses „Univermag“ seinen Gefechtsstand bezogen hatte, durfte an Verwundete und Kranke keine Verpflegung mehr ausgegeben werden. Trotz oder wegen dieser verheerenden Lage verbeugte er sich vor der Berliner Führung: Zum zehnten Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung grüßte der einige Stunden zuvor zum Generalfeldmarschall beförderte Paulus in einem Ergebenheitstelegramm den deutschen Diktator mit den Worten: „Noch weht die Hakenkreuzfahne über Stalingrad. Unser Kampf möge der lebenden und kommenden Generation ein Beispiel sein, auch in der hoffnungslosesten Lage nicht zu kapitulieren.“

Diese Unterwürfigkeitsgeste darf einerseits als Beleg für seinen vollkommenen Realitätsverlust gelten, andererseits zeugt sie von der im fünften Kriegsjahr noch immer ungebrochenen Strahlkraft des „Dritten Reiches“ und seines „Führers“, dessen hohlen Versprechungen das Gros der Landser bis zum bitteren Ende Glauben schenkte.

In zwei Kessel aufgespalten und jeder Illusion beraubt, begaben sich die Reste des nochmals aufgesprengten südlichen Kessels (Generalmajor Roske) am Vormittag des 31. Januar in Gefangenschaft, am 2. Februar stellte der nördliche (General der Infanterie Strecker) die Kampfhandlungen ein. Kapituliert hat Friedrich Paulus nicht, aber erschossen hat er sich auch nicht, wie Hitler forderte. Statt dessen schloß er sich in sowjetischem Gewahrsam der kommunistischen Propaganda-Organisation „Nationalkomitee Freies Deutschland“ an, die ähnlich wie der „Bund Deutscher Offiziere“ Stimmungen gegen die Wehrmacht provozierte, und lebte nach seiner Entlassung 1953 unter der Last zweier Bürden: seine 6. Armee aller Chancen auf eine Weiterexistenz beraubt zu haben, indem er sein Handeln in die totale Abhängigkeit von Hitler gestellt hatte, und den Gefälligkeiten für die Gegenseite, für die er sich bis zu seinem Tod im Jahre 1957 in Dresden bereitwillig einspannen ließ.

Der Untergang der 6. Armee galt vielen Zeitgenossen als Wende – obwohl diese mit der deutschen Niederlage vor Moskau im Winter 1941/42 bereits vollzogen war –, weil die apokalyptischen Ereignisse an der Wolga die Menschen in der Heimat mit einer bisher nicht gekannten Brutalität überwältigten – und sie spüren ließen, daß dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen war.

 

Dr. Guntram Schulze-Wegener, Fregattenkapitän d. R., ist Chefredakteur der zweimonatlich erscheinenden Zeitschrift Militär & Geschichte und Autor mehrerer militär- und marinegeschichtlicher Bücher und Aufsätze.

www.militaer-und-geschichte.de

 

Verluste in Stalingrad

Insgesamt fielen in der Schlacht um Stalingrad 147.000 deutsche Soldaten. Allein 60.000 sind allein im Kessel Stalingrad gefallen, 25.000 wurden verwundet ausgeflogen, 110.000 gefangengenommen. Von diesen sind 17.000 auf dem Weg in die Lager zu Tode gekommen. Nur knapp 6.000 Wehrmachtssoldaten kehrten in die Heimat zurück. Zudem fielen in Stalingrad über 300.000 Rumänen, Italiener, Ungarn, landeseigene „Hilfswillige“ sowie über eine Million russische Soldaten und Zivilisten.

Foto: Apokalypse in Eis und Schnee: Unter größten Strapazen wurden über 100.000 Wehrmachtssoldaten in die Gefangenenlager getrieben – ein Todesurteil für knapp ein Fünftel von ihnen