© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/13 / 25. Januar 2013

Die Rote Armee als höhere Daseinsform
Jochen Hellbeck und die andere Seite der Stalingrad-Schlacht: Triumph des sozialistischen Übermenschen
Michael Grebe

Unter mangelndem Selbstbewußtsein leidet der Historiker Jochen Hellbeck nicht. Diktiert er dem Leser seiner im Archiv des russischen Verteidigungsministeriums glücklich aufgefundenen „Stalingrad-Protokolle“ doch gleich eingangs, wie er diese Quellen zu würdigen habe: als „Sensation“.

Ganz verstiegen ist dies Eigenlob nicht. Denn große Aufmerksamkeit, weit über den Kreis zeithistorischer Fachleute hinaus, dürfte ihm seine Entdeckung gerade hierzulande bescheren, wo deutsche und angelsächsische Autoren das Publikum beinahe exklusiv mit einer „zutiefst germanozentrisch“ erzählten Geschichte dieser Entscheidungsschlacht des Zweiten Weltkrieges bedienen. Die Gegenseite, Soldaten, Offiziere der Roten Armee, die Zivilbevölkerung Stalingrads, komme indes, so moniert Hellbeck, selten zu Wort.

Und finde sie doch einmal Berücksichtigung, würden die Militärs in partiell noch von der NS-Propaganda gestanzte Stereotype gepreßt, wie zuletzt in Antony Beevors „auflagenstarker“ Darstellung des Ringens um das nach Stalin benannte Industrie- und Rüstungszentrum an der unteren Wolga (München 2010). So behaupte Beevor ohne Belege, dort sei die Loyalität der Rotarmisten erzwungen worden. Allein im Bereich der 62. Armee hätten demzufolge 13.500 Soldaten Befehlsverweigerung oder Desertion mit ihrer Exekution bezahlt.

Hellbeck verweist dagegen auf neuere Quellenpublikationen, die von August bis Oktober 1942 lediglich 278 Erschießungen durch die Sonderabteilungen der Geheimpolizei (NKWD) verzeichnen. Das sind Diskrepanzen, die offensichtlich nach einer Revision vorherrschender Ansichten über die Motivation sowjetischer Soldaten verlangten, die in ihrer Masse keine „terrorisierten Subjekte“ gewesen seien.

Beweismaterial für diese These glaubt Hellbeck in Befragungen aufgespürt zu haben, die eine „Kommission zur Geschichte des Vaterländischen Krieges“ unter Leitung des einstigen Politkommissars Isaak Israelewitsch Minz (1896–1991) bereits während und unmittelbar nach der Schlacht im Winter 1942/43 protokollierte. Sie würden erstmals ein „plastischeres und tiefenschärferes Bild“ von Gedanken und Gefühlen sowjetischer Kriegsteilnehmer vermitteln als „jede andere bekannte Quelle“. Nach dem Muster von Walter Kempowskis „Echolot“ montiert Hellbeck daraus seine Textcollage und dirigiert den vielstimmigen „soldatischen Chor“, in den sich Generale, Parteisekretäre, Ingenieure und jede Menge Frontkämpfer ebenso einreihen wie Krankenschwestern und Küchenarbeiterinnen.

Orchestriert wird dieser Chor, der mit detaillierten Schilderungen über die Gefangennahme von Generalfeldmarschall Friedrich Paulus am 31. Januar 1943 ausklingt, durch neun längere „Erzählungen vom Krieg“. Unter ihnen ragen die Erfahrungen eines „Feindpropagandisten“ heraus, der mit Lautsprechern und Flugblättern wenig erfolgreich an der Zersetzung deutscher Kampfmoral arbeitete.

Zum Schluß präsentiert Hellbeck Protokolle aus Vernehmungen deutscher Gefangener. Einige passen partout nicht zum gängigen Gegenmythos einer sinnlos geopferten, durch Kälte und Hunger dezimierten, defätistischen, kriegsmüden Elendstruppe. Schon manche russischen Impressionen bezeugen für viele Offiziere und Mannschaften bis zuletzt straffe Disziplin, Kampfeswillen und – mit Blick auf das gesamte Kriegsgeschehen – sogar Siegeszuversicht.

Insofern, konzediert auch Hellbeck, böten die Protokolle „ein zum Teil ganz anderes Bild“ von der 6. Armee, deren „bewaffneter Widerstand“ noch im Januar 1943 „außerordentlich hoch“ gewesen sei und den Angreifern Respekt eingeflößt habe. Zwar nicht von Paulus, der „im Schmutz“ hauste, aber etwa vom Ritterkreuzträger Friedrich Roske (1897–1956), der die Reste der niedersächsischen 71. Infanteriedivision befehligte. Roske führte für Paulus die Übergabeverhandlungen, verbrachte zwölf Jahre in Sibirien und wählte kurz nach Entlassung in die Bundesrepublik den Freitod. Von diesem „Haltung“ bewahrenden, „schneidig, sauber“ wirkenden General gewannen die russischen Sieger „den besten Eindruck“.

Mit seiner Edition hat Hellbeck der mitunter dämonisierten „anderen Seite“ der Ostfront, dem bestenfalls so genannten „Iwan“ oder dem anonymen „Russen“ ein Gesicht gegeben, er hat die „Deutschlastigkeit der Schlachtbeschreibung“ korrigiert und die sich mittlerweile in öden Repetitionen erschöpfende Militärhistorie zu Stalingrad um ein Kapitel Mentalitäts- und Alltagsgeschichte bereichert.

Nur das Versprechen, die „Vielfalt“ und die „zahlreichen Schattierungen“ im Gefühlshaushalt und im Bewußtsein der Sowjetsoldaten zu dokumentieren, hat er nicht eingelöst. Denn ungeachtet vieler farbiger Einsprengsel ist nicht zu verkennen, wie formelhaft die Sprache ist, wie hilflos die Befragten als Individuen versinken im ideologisch Vorgekauten, in dem, was Catherine Merridale in ihrer die Legende vom furchtlosen Heroismus „ruhmreicher“ Kämpfer zerstörenden Sozialgeschichte der Roten Armee („Iwans Krieg“, 2006) „öffentliches Bewußtsein“ nennt.

Aber im Gegensatz zu der Ideologie und „eigentliche“ Persönlichkeit trennenden Merridale ist Hellbeck fest davon überzeugt, daß öffentliches und persönliches Sprechen des Rotarmisten identisch war. Die Motivation des Kämpfers ist die Ideologie. Mehr war da nicht! Nach 25 Jahren Bolschewismus galt die Erziehung zum „sozialistischen Menschen“ in einer totalitären Gesellschaft als abgeschlossen. Die Monotonie der Stalingrad-Protokolle erklärt sich bei diesem Ansatz also aus gelungener bolschewistischer Konditionierung auch der Armee, was 1942 NKWD-Repressionen zumeist überflüssig machte.

Was Adolf Hitler für die Wehrmacht vergeblich erstrebte, weltanschauliche Geschlossenheit, war in Stalins „politischer Armee“ mit der „Verinnerlichung sozialistischer Werte“ rückstandslos umgesetzt worden. Daraus speiste sich der siegreiche „Geist von Stalingrad“. Er infiziert selbst den 1966 in Bonn geborenen, in den USA lehrenden Hellbeck. Dessen bundesdeutsch entortetes Gemeinschaftsbedürfnis hat offenkundig seine Ersatzbindung in diesem von ihm empathisch rekonstruierten sowjetischen Kollektiv gefunden, das Arbeiter und Soldaten in eine höhere Daseinsform transferierte, die sie angeblich „mehr Mensch“, „Übermensch“ sein ließ. Nur Stalins Terrorregime, das Beevor und Merridale in ihren Analysen der militärischen Strukturen nie aus den Augen verlieren, könnte diese Heldensage diskreditieren. Es kommt daher bei Hellbeck nicht vor.

Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2012, gebunden, 608 Seiten, Abbildungen, 26 Euro

Foto: Rotarmisten im zerstörten Stalingrad Februar 1943: Legende vom furchtlosen Heroismus „ruhmreicher“ Kämpfer