© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/13 / 01. Februar 2013

CD: J. Brahms
Lyrismus der Liebe
Andreas Zöllner

Seit einiger Zeit nun hat die historische Aufführungspraxis auch das 19. Jahrhundert erreicht. Sogar Johannes Brahms Spätwerke erhalten eine samtgoldene Klangpatina, die kraft des Vortrags auf nachgebauten Intrumenten seiner Epoche hervortritt. Kyrill Rybakov spielt die Sonaten Op. 120 auf der Replik einer B-Klarinette des System „Baermann-Ottensteiner“ wie sie von 1879 bis 1895 durch Wilhelm Hess/Ottensteiner Nachf. hergestellt wurde. Am 1876 von Carl Bechstein gebauten Flügel begleitet ihn Anna Zassimova.

Vielleicht mehr noch als die Klangsprache dieser historischen Instrumente trägt die ungebrochene russische Musikkultur zu diesem erstaunlichen Hörerlebnis bei. Eine restriktive Epoche hat hier eher stabilisierend gewirkt. Unter sowjetischen Insignien entfaltete sich ein russischer Landespatriotismus, der nicht nur das Eigenste im engen Sinne meinte, sondern ebenso die geistige Bemächtigung des vorzüglichen Fremden verfolgte. Darin liegt das Geheimnis von Männern wie David Oistrach, Evgeni Mrawinski und Dmitri Schostakowitsch.

Die heutige Stimmung dort ist für die würzige Scholle der Musiktradition kaum weiniger günstig. Die kurzen dekadenten Anätzungen haben den Humus noch nicht zersetzt. Wir können uns nur einen unvollständigen Begriff machen von dem Ekel, den unsere wurzellockere westliche Dekadenz in anderen Kulturkreisen hervorruft.

Dem entspricht oftmals die Hochachtung für die Überlieferungen der deutschen Kunst und Kultur, was uns jedoch zumeist eher zu genieren pflegt. Anstoß und Ansporn der europäischen Romantik aus der Mitte an die westlichen, vor allem die nördlichen und östlichen Ränder des Kontinents findet noch heute lebendigen Widerhall bei den ausführenden Musikern, während sich die Szene hier mit Dekonstruktion und Strukturalismus beschäftigt.

Der geheimnisvolle Lyrismus von Johannes Brahms zwei Sonaten op. 120 und der sieben Fantasien op. 116 beruht auf dem Erlebnis einer Künstlergemeinschaft, die zugleich ein Liebesbund war. 1853 lernte Brahms Clara Schumann kennen. Die Mutter von sieben Kindern und Ehefrau des Komponisten Robert Schumann erhielt in jenen Jahren einige zärtliche Briefe vom vierzehn Jahre jüngeren Freund: „In einem fort möchte ich dich Liebling und alles mögliche nennen, ohne satt zu werden, dir zu schmeicheln“, heißt es in einem dieser Briefe. Äußerlich wurde vorsichtiger Abstand gewahrt: „Ich dachte – wie oft daran, zu Ihnen zu gehen. Aber ich fürchtete das Unpassende. Es kommt ja alles in die Zeitungen.“ 1894 war er ihr näher als zuvor, und es fanden die ersten Proben der Sonaten bei ihr statt. Von der 75jährigen Frau schrieb er: „Frau Schumann ist heute so frisch, so jungfräulich wie nur je.“ Allein der Geist vermag wirklich schön zu machen. Der Komponist starb 1897, nur ein Jahr nach dem Tod der Freundin.

Wir hören nun auf der CD eine Darbietung, in der die Proben des Klarinettisten Richard Mühlfeld und Johannes Brahms am Klavier in unsere Zeit herüberzuklingen scheinen, wie sie im November 1894 in Clara Schumanns Wohnung in Frankfurt stattfanden. Die Pianistin Zassimova lehrt seit 2006 an der Musikhochschule Karlsruhe, wo auch die Aufnahme vor einem Jahr erfolgte.

Johannes Brahms, Declaration of Love – Sonate für Klavier und Klarinette, Op. 120 Anres (Bella Musica), 2012 www.bella-musica-edition.de

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