© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/13 / 01. Februar 2013

Der Umgangston ist rauh, aber herzlich
Redakteure und ihre Heimat: Henning Hoffgaard ist im tiefsten Osten Berlins aufgewachsen und stolz darauf / JF-Serie, Teil 5
Henning Hoffgaard

Wenn Berlin irgendwo ein leuchtendes, immer lebendiges Zentrum haben sollte, Hohenschönhausen wäre sicher am weitesten davon entfernt. Keine schicken Bars, keine angesagten Clubs, Touristen sind eine völlig unbekannte Spezies und auch sonst sucht man nach alldem vergebens, was man in Stadtführern neuerdings über Berlin lesen kann. Die Häuser sind hoch, eintönig gestaltet und könnten auch in Moskau oder Minsk stehen.

Daß hier, im äußersten Osten der Hauptstadt, überhaupt menschliches Leben möglich ist, grenzt an ein Wunder. Dennoch wohnen hier mehr als 100.000 Menschen in meist kleinen Plattenbauwohnungen. Viele Fassaden wurden nach 1989 ein wenig bunter. Und dennoch: Grau, Dreck und Niedergang, wohin man schaut. Viele Schulen mußten mangels Nachwuchs schließen. Ein Ort, an dem die meisten Deutschen wahrscheinlich keine Minute zuviel verbringen wollen. Den Alexanderplatz erreicht man mit dem Auto in knapp 30 Minuten. Bis zum nächsten unbetretbaren mückenverseuchten Sumpf sind es knapp fünf. Strenggenommen ist der Bezirk eine Trabantenstadt, mehr Brandenburg als Hauptstadt.

Daß in Hohenschönhausen nicht die feine, weltgewandte Gesellschaft lebt, versteht sich von selbst. Viele Rußlanddeutsche und Vietnamesen sind gekommen. Der Umgangston ist nach der Wiedervereinigung rauher geworden. „Berlin ist, wenn’s härter gesagt als gemeint ist.“ Mit diesem Spruch wirbt Berlin für sich. So tief im Osten in den Hochhausschluchten klingt es nicht nur so, es ist es auch so gemeint.

Falls von Hohenschönhausen überhaupt Notiz genommen wird, dann höchstens in Verbindung mit dem ehemaligen Stasi-Gefängnis oder den Eisbären Berlin, die allerdings schon seit Jahren keine Spiele mehr im legendären „Wellblechpalast“ austragen und es sich jetzt im vornehmen Friedrichshain bequem gemacht haben. Beim Fußball hält man eher zum BFC Dynamo als zu den Eisernen aus Köpenick. Hertha-Fan zu sein, heißt Probleme zu bekommen. Sollte die Deutsche Demokratische Republik irgendwo außerhalb von Chile weiterbestehen, dann ganz sicher hier. Die Linkspartei ist Volkspartei. CDU, FDP und Grüne vegetieren in ihrem traurigen Nischendasein vor sich hin. Bei Konzerten der Puhdys herrscht ungebrochener Andrang. „Früher war alles besser.“

Was anderswo längst nur noch als komödiantische Einlage funktioniert, ist in Hohenschönhausen Ausdruck eines Lebensgefühls. Eigentlich könnte der ganze Stadtteil planiert und an seiner Stelle ein großer Parkplatz gebaut werden. Den Unterschied würde wohl kaum ein Besucher erkennen. Aber von denen gibt es ja sowieso nicht viele.

Und doch ist der Bezirk auf seine ganz eigene Weise irgendwie liebenswert. Liebenswert, weil er all das verkörpert, was man im Rest der Stadt schon lange nicht mehr findet. In diesem kleinen Refugium kann der Berliner noch Berliner sein. Kein affektiertes Gehabe, kein wichtigtuerisches abgehobenes Gequatsche der „Irgendwas-mit-Medien“-Zuzügler. Hier leben echte Originale. Bier statt Club Mate. Bauarbeiter statt Webdesigner. Lieber mit den Nachbarn gemütlich grillen als ins teure Sushi-Restaurant.

Hohenschönhausen ist einfach ehrlich. Klare Kante. Wer hier aufwächst, redet nicht lange um den heißen Brei herum und schert sich keine Sekunde um politische Korrektheit. Jungs spielen Fußball, Mädchen mit Puppen. Etwas anderes ist undenkbar. Wenn es Probleme gibt, wird zusammengehalten. So etwas ist selten geworden. Wer das ganze Berlin kennenlernen will, muß sich einfach einmal selbst einen Eindruck von diesem unvergleichlichen Stadtteil verschafft haben.

Meine Eltern wohnen bis heute hier. Hohenschönhausen ist Heimat. Grau und großartig.

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