© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/13 / 01. Februar 2013

Kinder gehören nicht in Staatsbesitz
Der dänische Erziehungsratgeber Jesper Juul hat eine Streitschrift gegen die frühkindliche Fremdbetreuung in Krippen geschrieben
Ellen Kositza

Jesper Juul ist schon okay. Der 64jährige Däne, der aussieht wie eine voluminösere Version unseres Bundespräsidenten, ist der Mann, dem die Frauen vertrauen. Die ratsuchenden Mütter vor allem. Juul ist Familientherapeut und Autor in viele Sprachen übersetzter Erziehungsratgeber. Man darf sagen: Die Werke mit Titeln wie „Dein kompetentes Kind“ oder „Nein aus Liebe. Starke Eltern, starke Kinder“ gehen weg wie warme Semmeln. Allein auf amazon.de hat Juul, Vater eines Sohnes, tausend Leserrezensionen. Es sind Hymnen. Wirklich ergründbar ist diese Euphorie nicht.

Juuls Ratgeber enthalten viel Ja und Aber, viel Redundanz, viel Dringlichkeit, die nicht immer zwingend logisch erscheint. Er sieht in den Kindern „kompetente Kooperationspartner“ ihrer Eltern. Den Ratsuchenden bleibt, „offene Gespräche“ mit ihren Problemkindern zu suchen, in sich hineinzuhören, wie sich was „anfühlt“ und störendes Verhalten in „Botschaften“ zu übersetzen. Ganz wichtig im partnerschaftlichen Eltern-Kind-Diskurs: Schön authentisch bleiben! Den Eltern gefällt’s. Sie mögen solche zarten Schubser. Juul ist ihr Erziehungspapst.

Um so wuchtiger schlägt die jüngste Handreichung des ehemaligen Heim-erziehers ein. Die Erscheinung seines neusten Büchleins wurde flankiert von zahlreichen Interviews und Vortragsveranstaltungen. Der Starautor geht hart ins Gericht mit der Krippenpolitik unserer Regierung. Daß „in 50 Jahren 80 Prozent der Eltern ihre Kinder zu Hause behalten“ wollen, – wer, wenn nicht Juul darf dergleichen prognostizieren, ohne öffentlich abgewatscht zu werden? Was für ein frommer, naiver Glaube! In Berlin erntete er frenetischen Applaus dafür. In seiner Broschüre stellt er unmißverständlich klar, daß die nun wie Pilze aus dem Boden sprießenden Kinderkrippen „nicht eingerichtet wurden, um die Bedürfnisse der Kinder zu befriedigen“.

Nur etwa zehn Prozent der Kinder profitierten von dieser frühkindlichen Fremdbetreuung, es sind diejenigen, die in dysfunktionalen Familien aufwachsen und für die ein geregelter Tagesablauf ein Segen ist. Das politische Ziel von EU und OECD, so viele kleine Kinder wie möglich institutionell „unterzubringen“, kommt für Juul jedoch „einer Zwangsmaßnahme“ gleich und habe mit „demokratischen Gepflogenheiten nichts zu tun“. Weil die europäischen Staaten ökonomisch mit anderen Ländern konkurrieren, sei es – aus Staatssicht – notwendig, daß beide Elternteile erwerbstätig seien, dabei würden „Kinder zu Investitionsobjekten“.

Juul gibt zu bedenken, daß historische Erfahrungen mit Kindern in derartigem „Staatsbesitz“ eher beängstigend waren. Er erinnert an die Familienentwöhnungspolitik in der Sowjetunion, in der DDR und den israelischen Kibbuzim. Juul nimmt sich auch der vielzitierten Rechtfertigung an, wonach es für eine „karriereorientierte Frau“ doch sicher nicht gut sei, als „frustrierte Mutter“ zu Hause zu sitzen. Das nämlich beantworte noch lange nicht die Frage, ob es für das Kind besser sei, in einer Tageseinrichtung betreut zu werden. Juul kennt die Stimmung in Deutschland gut. Er weiß, wie emotional die Begleitmusik zur Krippenpolitik intoniert wird. Dieser „Zickenkrieg“ möge ruhen: „Konzentriert euch auf eure eigene Familie und eure Kinder!“

Der Bestsellerautor betont artig, daß sich die Interessen von Eltern und Kindern nicht trennen lassen und daß er deshalb mittels eines ultimativen Verdikts kein Öl ins Feuer gießen wolle. Und doch: „Kinderkrippen sind keine Erfindung Gottes und kein Geschenk an seine jüngsten Schäfchen. Sie sind ein Angebot der Gesellschaft an die Eltern, die auf dem Arbeitsmarkt benötigt werden.“ Jesper Juuls Stimme findet gewohnheitsgemäß Gehör. Auch in der Betreuungsfrage?

Jesper Juul: Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, den Eltern oder sich selbst? Ansichten zur Frühbetreuung. Beltz Verlag, Weinheim 2012, broschiert, 39 Seiten, 4,95 Euro

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