© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/13 / 08. Februar 2013

Explosives Erbe
Spätfolgen des alliierten Bombenkrieges: Die Mitarbeiter der Kampfmittelbeseitigungsdienste sind auch nach sieben Jahrzehnten unverzichtbar
Taras Maygutiak

Der erste strategische Bombenangriff der Royal Air Force (RAF) fand in der Nacht zum 12. Mai 1940 auf das heutige Mönchengladbach-Rheydt in der Rheinprovinz statt. Das Stadtarchiv dokumentierte damals vier Tote. Zwei Jahre später, beim Tausend-Bomber-Angriff auf Köln, waren schon fast 500 Tote zu beklagen. Bis zum 2. März 1945 wurden insgesamt 262 Luftangriffe auf die Domstadt geflogen – Zehntausende Kölner starben, die Altstadt wurde sogar zu 95 Prozent zerstört.

Bis Kriegsende wurden dann alle Industriezentren und beinahe alle größeren Städte des Deutschen Reiches von den alliierten Bomberverbänden heimgesucht: Besonders verheerend, mit Abertausenden Toten in der Zivilbevölkerung, traf es Städte wie Hamburg 1943 bei der „Operation Gomorrha“, die Ruhrgebietsstädte und Berlin. Noch wenige Wochen vor Kriegsende 1945 vernichtete der von Brandbomben ausgelöste Feuersturm das historische Dresden und große Teile von Braunschweig, Darmstadt, Halberstadt, Kassel, Magdeburg, Nürnberg und Würzburg.

Pforzheim wegen seiner Brennbarkeit ausgewählt

Aber auch kleinere Städte wie Pforzheim in Baden-Württemberg blieben von dem Bombenterror nicht verschont. Die verwinkelte, malerische Fachwerk-Altstadt wurde ausgewählt unter der Prämisse der Brennbarkeit im Rahmen der „Moral Bombing“-Strategie, wie das im Alliierten-Jargon hieß. Die Stadt, berühmt für ihre Schmuckindustrie, traf es, prozentual auf die Bevölkerung gesehen, am heftigsten. Durch den Angriff von 368 RAF-Bombern am 23. Februar 1945, die innerhalb von 22 Minuten 1.575 Tonnen ihrer tödlichen Fracht abluden, starben von den 79.000 Einwohnern 17.600 (darunter vor allem Frauen und Kinder) im Bombenhagel und den anschließenden Bränden.

Ein Fünftel der Bevölkerung – mehr als in jeder anderen Stadt des Reiches. 39 Minen, 803 Sprengbomben und 94.429 Stabbrandbomben – das war die Größenordnung der tödlichen Fracht, die die anglo-amerikanischen Verbände im Schnitt pro Quadratkilometer bei der „Operation Gomorrha“ in Hamburg abgeworfen hatten. In den anderen Städten, die den Flächenbombardements zum Opfer fielen, dürften die Zahlen mit Abweichungen ähnlich sein.

In ganz Baden-Württemberg – dort wurden vor allem Mannheim, Karlsruhe, Stuttgart, Friedrichshafen, Ulm und Pforzheim bombardiert – waren es schätzungsweise 100.000 Tonnen Bomben, die abgeworfen wurden, heißt es beim Kampfmittelbeseitigungsdienst in Stuttgart. Davon gelangten allerdings viele aus verschiedenen Gründen nicht zur Wirkung, Schätzungen zufolge knapp 15 Prozent. Allein in Hamburg und Berlin werden jeweils noch 3.000 Blindgänger vermutet (JF 24/10). Im Südwesten war Mannheim mit über 25.000 Tonnen Bomben aus 150 Luftangriffen diejenige Stadt, die am meisten attackiert wurde.

Hört man solche Zahlen, kann man sich vorstellen, daß auch 68 Jahre nach Kriegsende noch viele Blindgänger in der Erde schlummern. „Verläßliche Aussagen über die Menge an im Erdreich noch verborgenen Kampfmitteln können nicht getroffen werden“, sagt der Leiter des Kampfmittelbeseitigungsdienstes aus Stuttgart, Peer Müller (44). Alleine in Baden-Württemberg würden vermutlich noch Tausende Blindgänger im Boden stecken. Irgendwann werden diese ja verrotten, und wenn Erde darauf liegt, ist alles halb so wild, könnte man meinen. Dem ist jedoch nicht so.

Kampfmittelbeseitiger haben weiterhin viel zu tun

„Das Gegenteil ist der Fall“, so Müller. Aufgrund chemischer Zersetzungsprozesse der Sprengstoffe, Alterung von Bestandteilen der Sicherungs- und Zündeinrichtungen sowie Korrosion der Kampfmittelhüllen nehme die Brisanz im Umgang mit Blindgängern von Bomben, Artilleriegranaten, aber auch Hand- und Gewehrgranaten, Panzerfäusten und vielem mehr sogar in vermehrtem Maße zu, betont er. Die Problematik erledige sich also nicht einfach durch „Liegenlassen“. Sorgen darüber, ob sie arbeitslos werden könnten, müssen sich die Kampfmittelbeseitiger keine machen, winkt Müller ab. 1.300 bis 1.400 Anfragen bekomme sein Dienst in Stuttgart jährlich.

Dabei handelt es sich jedoch natürlich nicht nur um Blindgänger. Bundesweit wird im Schnitt jeden Tag übrigens eine Bombe gefunden. Er selbst sei als Verwaltungsbeamter auf die Stelle als Leiter des Dienstes gekommen, erzählt Peer Müller. Von den 31 Leuten, die ihm unterstellt sind, seien fünf Mitarbeiter nur damit beschäftigt, Luftaufnahmen der Alliierten auszuwerten. 22 Mann seien technisches Personal, erklärt Müller die Struktur des Kampfmittelbeseitigungsdienst in Baden-Württemberg. In der Regel seien das ehemalige Truppenfeuerwerker der Bundeswehr, die eine Fortbildung über die Kampfmittel des Zweiten Weltkrieges bekommen hätten.

Das Wissen über die Kampfmittel aus Kriegszeiten werde heute an zwei oder drei Stellen in Deutschland vermittelt, sagt er. Wie in den meisten Bundesländern ist die Kampfmittelbeseitigung in Baden-Württemberg Ländersache. Anders geregelt ist die Kampfmittelbeseitigung beispielsweise in Hamburg. Dort ist das Sache der Feuerwehr, die dazu 30 Sprengstoffexperten beschäftigt.

In Berlin übernehmen 17 Fachleute des Landeskriminalamts Bombenentschärfungen. In Thüringen und Bayern hat man das Thema „Blindgänger“ sogar an private Firmen abgegeben. Und wann werden die Kampfmittelbeseitigungsdienste tätig? Werden andauernd Luftaufnahmen ausgewertet? „Zum einen gibt es Zufallsfunde, zum anderen die gezielte Bombensuche – allerdings nur auftragsbezogen“, erklärt Peer Müller: „Meistens werden wir bei Bauvorhaben angefragt.“

Im Bebauungsverfahren werden bekannt gewordene Bombenflächen bereits als sogenannte Verdachtsflächen geführt. Eine Untersuchung zur Bomben-Ortung ist dann Pflicht. Teilweise kommt der Staat für die Kosten einer Räumung auf. Die Räumung explosiver Hinterlassenschaften verschlingt in Deutschland jedes Jahr dreistellige Millionenbeträge. In einigen Bundesländern kann es für Grundstücks- und Immobilieneigentümer teuer werden. Grundsätzlich besteht eine Verkehrssicherungspflicht.

Der Eigentümer muß bei einer Gefahrenlage in seinem Verantwortungsbereich entsprechende Vorkehrungen treffen, um die Schädigung Dritter zu verhindern. Es besteht Anzeigenpflicht. In Baden-Württemberg habe man eine Vorschrift nicht, die in einigen Bundesländern jedoch gelte, sagt Müller. Dort sei festgelegt, daß „der Grundstückseigentümer bis zum aktuellen Verkehrswert seines Grundstückes haftet.“

Über die Kostenhöhe bei Evakuierungen kann Dienstleiter Müller keine Angaben machen. Die sind zum einen Sache der Ortspolizeibehörden, zum anderen gestaltet sich jede Evakuierung je nach Umgebung, aber auch je nach Größe der Bombe, unterschiedlich. Für den Evakuierungsradius gebe es eine alte Faustregel, verrät Müller: „Pro Kilogramm einen Meter.“ Als voriges Jahr in Koblenz in Rheinland-Pfalz eine 1.800-Kilo-Bombe gefunden worden sei, habe man es auch so gehandhabt.

Akribische Luftbildauswertung

Neben der Evakuierung und der Räumung fallen bereits davor Kosten beim Kampfmittelbeseitigungsdienst an, und zwar bei der Auswertung der Luftbilder. „Die Auswertung kostet 60 Euro pro Stunde“, erklärt Müller: „Ein Auswerter sitzt da schon einmal eine Woche dran.“ Von den Luftaufnahmen hat der Stuttgarter Dienst ein eigenes Archiv, zudem bezieht man dort Bilder von der amerikanischen Luftwaffe sowie von der Universität Edinburgh. „Dort sind die britischen Luftaufnahmen nach diversen Umwegen gelandet“, weiß Müller.

Dann erklärt er noch die eigentliche Aufgabe des Dienstes, wenn nämlich – sein technisches Personal – die Kampfmittelräumer zu Werke gehen. Erledigt werden müsse die Entschärfung, der Transport und die Vernichtung. Falls es möglich ist, werde der Zünder vor Ort ausgebaut, erläutert er. Nach dem Abtransport würden die Bomben dann unter ständiger Kühlung zersägt. Das Material werde dnach in Wannen abgebrannt.

Sei ein Zünder deformiert, verzichtete man darauf, diesen zu entfernen. „Dann machen wir eine kontrollierte Sprengung“, erklärt Müller: „Auch dann, wenn es andere technische Gründe gibt oder die Art des Zünders uns zur Vorsicht mahnt.“ Ungefährlich ist der Beruf natürlich nicht. Seit 1946 sind alleine in Baden-Württemberg 13 Sprengstoffexperten im Einsatz ums Leben gekommen. „Die meisten allerdings in den fünfziger und sechziger Jahren.“

Heute seien die Sicherheitsstandards höher: „Den letzten schweren Unfall mit tödlichem Ausgang hatten wir Mitte der achtziger Jahre.“ Meint man es nur oder werden heute mehr Bomben entschärft als in den vergangenen Jahrzehnten? An der Häufigkeit der Einsätze habe sich nie etwas geändert, und das werde sich auch in den kommenden Jahrzehnten nicht ändern, meint Müller. Der Eindruck entstehe sicher, da heute in den Medien viel mehr über spektakuläre Einsätze berichtet werde. Müller, der ursprünglich aus einem anderen Verwaltungsbereich kommt, ist nicht nur dienstlich involviert: „Wenn es die Zeit erlaubt, ist die historische Recherche zu diesem Thema schon sehr interessant.“

Explosion bei Fliegerbombenräumung im August 2012 in München: Die Brisanz des Themas wird unterschätzt

 

RAF-Luftbildfotos von 1939 bis 1945: www.aerial.rcahms.gov.uk/worldwide/

US-Bildmaterial des Zweiten Weltkrieges: www.go.fold3.com/wwii_photos/archives.gov/research/military/ww2/

 

Kampfmittelbeseitigungsdienst

Im Gegensatz zu Baden, das schon 1940 heftigen Bombenangriffen ausgesetzt war, blieb Württemberg zunächst weitgehend verschont. Ab 1943 intensivierten die alliierten Bomberverbände jedoch ihre Angriffe – die US-Bomber kamen meist am Tag, die Briten in der Nacht. Mit dem Kriegsende war die Gefahr aus der Luft vorbei, doch die nichtdetonierte tödliche Luftfracht lauert bis heute im Boden. Laut Angaben des baden-württembergischen Kampfmittelbeseitigungsdienstes wurden seit dem 12. August 1946 über 6.800 Tonnen Munition geborgen sowie fast 25.000 Bomben entschärft und vernichtet. Insgesamt wurden bislang über 86 Millionen Quadratmeter Fläche systematisch von Munition befreit. Und die Sprengkörper haben auch nach sieben Jahrzehnten nichts von ihrer Gefährlichkeit verloren. Im Gegenteil: Die Verrottung von Zündersicherungen, die Auskristallisation von Sprengstoffen und die Reaktion von Initialsprengstoffen mit ihren Metallumhüllungen machen die Handhabung und die Munitionsbeseitigung immer gefährlicher, warnt der Kampfmittelbeseitigungsdienst.

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