© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/13 / 08. Februar 2013

CD: A. Tharaud
Tiefer Brunnen
Jens Knorr

Faire le bœuf“, das ist die französische Redewendung für das Improvisieren oder die Veranstaltung einer Jam-Session. Eben noch als Meisterschüler Alexandre in Michael Hanekes Meisterfilm „Amour“ auf der Leinwand zu sehen und mit der „Filmmusik“ aus Stücken Schuberts, Beethovens und Bachs auf CD zu hören, überrascht der französische Pianist Alexandre Tharaud nun als meisterlicher Barpianist. Mit seinem neuen Projekt begeben sich Tharaud und die Seinen auf die Spuren des legendären Künstlertreffpunkts im Paris der zwanziger Jahre, „Le Bœuf sur le Toit“, woher die Redewendung stammt.

Im „Bœuf“ separierten sich zwischen 1922 und 1927 die Pariser High-society und die Avantgardekünstler, Welt, Halb- und Unterwelt voneinander und trafen doch aufeinander, gingen die merkwürdigsten Mesalliancen ein, zumindest in der Kunst, Klassik und Jazz, amerikanischer Jazz und französisches Chanson, und brachten verrückte Klavierklassiker hervor wie die von Jean Wiéner und die „Fantasy foxtrots“ von Clément Doucet nach Chopin, Liszt und Wagner.

Tharaud hat einige Arrangements des legendären Duos Wiéner und Doucet in jahrelanger Arbeit von alten Schellackplatten transkribiert – Partituren hat es nie gegeben – und spielt sie nun mit Frank Braley. Juliette Noureddine singt Chansons aus dem Repertoire von Yvonne George, Bénabar eines aus dem Repertoire von Maurice Chevalier, Madeleine Peyroux singt Cole Porters „Let’s do it“, und Natalie Dessays Stimme ist in einem Ausschnitt aus Wiéners „Trois Blues chantés“ nicht wiederzuerkennen. Jean Delescluse phantasiert mit Schlagzeuger Florent Jodelet und Gitarrist David Chevalier über Worte Jean Cocteaus, der Schauspieler Guillaume Gallienne verführt die ganze Truppe zu einer Nummer aus der Operette „Louis XIV“ von Parys und Parés, in deren Titelrolle 1929 der Komiker Armand Dranem reüssierte.

Georges Van Parys kennen wir übrigens als Komponisten der Filmmusik zu „Fanfan der Husar“ und anderen. Und selbstverständlich gehört da auch der Foxtrott aus Ravels „L’Enfant et les sortilèges“ und ein Ausschnitt aus Darius Milhauds Fantasie für Orchester op. 58 hinein, der Tango des Fratellini, vom Komponisten für Klavier arrangiert: „Le bœuf sur le toit“, „Der Ochse auf dem Dach“, woher der Name des Restaurants stammt.

„Ohne das ‘Bœuf sur le Toit’“, sagt Tharaud, „wäre die französische Musik wahrscheinlich nicht die gleiche gewesen.“ Doch das „Bœuf“ von heute hat mit dem alten nur den Namen gemein: das Pleyel-Cembalo, auf welchem Tharaud Wiéners Arrangement des „Saint Louis Blues“ spielt, ist von 1959 und aus dem Bestand des Musée de la Musique, Paris. Die Musik derer, die das „Bœuf“ damals bevölkerten, wirkt, nachempfunden von den Heutigen – und im Beiheft kundig nacherzählt von Martin Pénet –, vielleicht eine Spur zu edel und eine zu wenig verrückt, wehmütig in jedem Fall.

Aber darf eine Jam-Session so voll Wehmut sein? Zum Ende des Albums ist es, als wolle alles, kaum gehoben, wieder in den unergründlich tiefen Brunnen der Vergangenheit zurückfallen und wir dürften nur noch das Echo all dessen vernehmen, was einmal für andere erklang.

Alexandre Tharaud: Le Bœuf sur le Toit, Swinging Paris Virgin Classics (EMI), 2012 www.emiclassics.com

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