© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/13 / 08. Februar 2013

Viel Raum für die Neue Stadt
Von Albert Speers „Germania“ bis zur „autogerechten Stadt“: Stadtplanerische Wiederaufbaukonzepte nach dem Bombenkrieg
Norbert Borrmann

Was wäre gewesen, wenn? Eine alte Frage, die nicht nur Historiker zum Sinnieren verführt. Was wäre gewesen, wenn die Römer 9 n. Chr. im Teutoburger Wald nicht geschlagen worden wären? Was wäre, wenn Napoleon bei Waterloo gesiegt hätte? Oder: Was wäre, wenn der Terrorangriff der Royal Air Force am 14. Februar 1945 Dresden zwar in Schutt und Asche gelegt hätte, es aber wie durch ein Wunder der „Vorsehung“ doch noch zu einem „Endsieg“ gekommen wäre? Würden dann Dresden und all die anderen im Krieg zerstörten Städte heute ganz anders ausschauen? Hätte nicht der oberste NS-Architekt – nein, nicht Albert Speer, sondern Adolf Hitler – angeordnet, daß jetzt alles viel größer, schöner und prächtiger werden müsse? Oder wäre es unter einer siegreichen NS-Diktatur gar nicht so viel anders geworden? Hätten die Städte vielmehr ein ähnlich austauschbares, banales und unwirtliches Gesicht bekommen, es wie viele von ihnen heute haben?

Während man in den ersten Jahren des Wiederaufbaus die NS-Architektur als unzeitgemäß oder als „Blut und Boden“-Baukunst schmähte und den Gegensatz des an der Moderne ausgerichteten Neuaufbaus zu ihr betonte, ließ sich just zu dem Zeitpunkt, als die Klagen über die Monotonie moderner Architektur und über die Unwirtlichkeit der Städte immer lauter wurden, ein ganz anderer Tenor hören: „Auch in der Architektur gab es keine Stunde Null – dieselben Leute bauten auf dieselbe Weise weiter“, hieß es plötzlich. Wie Manfred Sack in der Zeit meinte: „Als der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen war, schlug keine ‘Stunde null’: Es ging, die Architektur und den Städtebau betreffend, einfach weiter. Hatte es nicht schon 1940 den ‘Erlaß des Führers zur Vorbereitung des Wohnungsbaus nach dem Kriege’ gegeben? Und war nicht 1943 beim ‘Generalinspekteur für die Neugestaltung Berlins’, bei Albert Speer sen., ein Arbeitsstab für den Wiederaufbau zerstörter Städte berufen worden? Alle Architekten waren schon eingeteilt, und also machten sie nach dem Kriege allesamt so weiter wie geplant.“

Nach dem „Endsieg“ wären Städte umgestaltet worden

Doch inwieweit deckt sich diese neudeutsche Sicht mit der Wirklichkeit, zumal der gebauten? Unbestreitbar ist, daß die meisten Architekten, die nach der „Stunde Null“ zu bauen begannen, bereits zuvor im Dritten Reich tätig gewesen waren. Woher hätten auch all die neuen Architekten kommen sollen? Zutreffend ist auch, daß im Krieg bereits ein Arbeitsstab für den Wiederaufbau zerstörter Städte geschaffen worden war. Auch kam es im Zweiten Weltkrieg zu einem Rationalisierungsschub. Beides zusammen bildete dann wesentliche Voraussetzungen für den raschen Wiederaufbau.

Selbst das in der Bundesrepublik durchgesetzte Leitbild eines aufgelockerten und durchgrünten Siedlungsbaus gab es bereits im Dritten Reich – nicht zuletzt als Folge des alliierten Bombenterrors. Auch wurde die Zerstörung deutscher Städte von der NS-Führung nicht nur mit einem weinenden Auge wahrgenommen, betrachtete man sie doch als Möglichkeit, nach dem „Endsieg“ alles besser machen zu können. So hielt Goeb-bels Ende Juni 1943 folgende Äußerung Hitlers in seinem Tagebuch fest: „Daß die Städte selbst in ihrem Kern getroffen werden, ist von einer höheren Warte aus gesehen nicht ganz so schlimm. Die Städte stellen keine guten Bilder im ästhetischen Sinne dar. Die meisten Industriestädte sind schlecht angelegt, muffig und miserabel gebaut. Wir werden durch die britischen Luftangriffe hier Platz bekommen.“ Und am 14. März 1944 notierte Goebbels, daß der feindliche Luftterror, besonders für die mittelalterlichen Städte, zwar schlimm sei, aber auch etwas Gutes beinhalte, insofern „er diese Städte überhaupt für den modernen Verkehr aufschließt“.

Ist der mißlungene Wiederaufbau, die „zweite Zerstörung“ unserer Städte, ist das also auch Hitlers Werk? Um hier zu einer sachlichen Antwort zu gelangen, muß man sich zunächst vergegenwärtigen, daß es zwischen NS-Baukunst und Moderne keineswegs nur Gegensätze gibt. Die von NS-Architekten angestrebte Rationalisierung des Bausektors? – Ein Lieblingskind der Moderne! Die im Dritten Reich angestrebte verkehrsgerechte Stadt? – Ein Lieblingskind der Moderne! Die aufgelockerte, durchgrünte Stadt? – Seit der Entstehung der Gartenstadtbewegung Ende des 19. Jahrhunderts eine bekannte Forderung, die nicht nur von NS-Architekten, sondern vor allem von Vertretern der Moderne begeistert aufgenommen wurde. Generell gilt: In der Abwendung von der als unübersichtlich und chaotisch empfundenen alten Stadt, hin zu einer rationalistisch durchgeplanten Stadtstruktur, reichen sich NS-Vorstellungen und Moderne die Hand.

Doch es gibt nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch deutliche Gegensätze. Gegensätze, die von den ehemaligen NS-Architekten nach 1945 allerdings sehr schnell aufgegeben wurden, wofür ihre Nachkriegsbauten das beste Zeugnis ablegen. Wie auf anderen Gebieten erwies sich der Nationalsozialismus auch in Architektur und Stadtplanung als eine Mixtur aus Moderne und Tradition.

So fußte die Stadtplanung in der NS-Ära weitgehend auf bereits in der Renaissance gelegten Fundamenten wie: Sichtachsen, repräsentative Platzgestaltung, im Innenstadtbereich geschlossene Blockbebauung, Symmetrie und beim einzelnen Bauwerk die Übernahme tradierter Gliederungselemente und Schmuckformen. All das ist aber für die Moderne tabu – und während Hitler gegenüber Albert Speer geäußert hatte, Paris sei die schönste Stadt der Welt, wollte der Kirchenvater der Moderne, Le Corbusier, in seinem „Plan Voisin“ große Teile von Paris ausradieren und durch gleichförmige Hochhausbauten ersetzen.

Nach einem „Endsieg“ hätten unsere Städte also durchaus eine andere Gestalt bekommen. Wer wissen möchte, wie sie ungefähr ausgesehen hätten, der muß den Blick von der alten Bundesrepublik zur jungen DDR wenden. Ausgerechnet im sich als revolutionär verstehenden „Arbeiter- und Bauernstaat“ griff man im ersten Jahrzehnt seines Bestehens, nicht zuletzt aus Gründen größerer Volksnähe, beim Bauen auf traditionelle Elemente zurück, so wie in der Stalinallee (heutige Karl-Marx-Allee) in Ost-Berlin, am Roßplatz in Leipzig oder am Altmarkt in Dresden.

Der Wiederaufbau im Westen wurde von damaliger DDR-Warte aus als „Tragödie“ bezeichnet. Doch ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre siegte auch in Mitteldeutschland der Geist der traditionsverneinenden Moderne, und die städtebauliche Tragödie wurde zu einem gesamtdeutschen Phänomen. So verpaßte Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht seiner zerstörten Heimatstadt Hannover ein „modernes“ Gesicht mit völlig neuen, auf dem Reißbrett entstandenen Vierteln. Mehrspurige Straßen, auch als Überführungen, riesige Autokreisel, Fußgängertunnel galten als Maß des Fortschritts. „Das Wunder von Hannover“, feierte 1959 der Spiegel diese „autogerechte Stadt“ an der Leine.

Rekonstruktion stieß bei Architekten auf Ablehnung

Neben den zwei bisher geschilderten Wiederaufbauarten gibt es noch die Rekonstruktion. Hier entsteht Altes wieder neu, nicht unbedingt im Verhältnis eins zu eins, aber doch vom Maßstab und Typus her. Als Beispiel hierfür zählen der Kurort Freudenstadt im Schwarzwald, Rothenburg ob der Tauber oder Münster. Obgleich die Rekonstruktion nur einen kleinen Teil des Wiederaufbaus ausmacht, stieß sie bei der bundesrepublikanischen Architektenschaft von Anbeginn an auf Ablehnung.

Das gilt bis in die Gegenwart. Als der Betonklotz des Technischen Rathauses in Frankfurt am Main abgerissen werden sollte, war es eine Bürgerinitiative, die dafür kämpfte, an dieser Stelle ein Stück von Alt-Frankfurt neu auferstehen zu lassen, um innerhalb der Esperantowelt der Moderne wieder ein Stück Identität und Verortung zu schaffen. Tatsächlich konnten sich die Befürworter der Rekonstruktionen – nicht zuletzt durch die ungeheure Nachrage nach dieser Art von Immobilien in der Innenstadt – gegenüber den Einwänden der in Fachblättern wie Bauwelt gegen die „Imitate und Plagiate“ und das „architektonische und intellektuelle Debakel“ polemisierenden Mehrzahl der Architekten durchsetzen. Auch für die Rekonstruktion der Dresdner Altstadt um die Frauenkirche und am Neumarkt zeigt die ideologisch festgefahrene Fachwelt im Bund Deutscher Architekten (BDA) und in der Branchenpresse wenig Verständnis (siehe Seite 7).

Dresden, das geschundene Elbflorenz, steht exemplarisch für die drei Wiederaufbaumodelle: Für eine frühe, monumentalisierende DDR-Architektur mit ihrem durchaus schöpferischen Rückgriff auf die tradierte Formensprache, für den brutalen Wiederaufbau im Zeichen der Moderne und schließlich für eine behutsame Rekonstruktion – von Kritikern aus den Reihen der Architektenschaft wie Georg Mörsch oder Adrian von Buttlar gerne als „Kulissenarchitektur“ beschimpft. Ist aber erst einmal etwas im alten Glanz neu erstanden, so pflegt sich die Architektenschaft diesbezüglich in tiefes Schweigen zu hüllen.

Wer weiß heute etwa noch von ihrem Kampf gegen den Wiederaufbau des Berliner Schlosses? Nein, nicht vom Stadtschloß ist hier die Rede, das steht ja noch gar nicht! Gemeint ist vielmehr das Charlottenburger Schloß – die einstige Sommerresidenz der Hohenzollern. Das 1943 kriegszerstörte Schloß sollte nämlich abgetragen und durch eine „zeitgemäße“ Lösung ersetzt werden, was zum Glück durch den Beharrungswillen von Margarete Kühn, damalige Direktorin der Berliner Schlösserverwaltung, nicht geschah. Längst möchte keiner mehr das Schloß missen – ganz im Gegensatz zu zahlreichen Bausünden der Moderne.

 

Dr. Norbert Borrmann ist Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler. 2009 erschien von ihm das Buch „Kulturbolschewismus oder Ewige Ordnung. Architektur und Ideologie im 20. Jahrhundert“ im Grazer Ares Verlag.

Foto: Modell der zerstörten Innenstadt von Frankfurt am Main; „autogerechte Stadt“, Bielefeld 1961 (r.); Albert Speers Modell von „Germania“ (r. o.) und Baustelle Stalinallee in Ost-Berlin 1953 (r. außen): „Wir werden durch die britischen Luftangriffe hier Platz bekommen“, notierte Goebbels

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