© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/13 / 08. Februar 2013

Zeugnis einer untergehenden Welt
Einst Pflanzstätte protestantischer Geisteselite: Im deutschen Pfarrhaus geht langsam das Licht aus
Christian SchwieSSelmann

Was haben die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, der Philosoph Friedrich Nietzsche, die RTL-Super-Nanny Katharina Saalfrank, der Popliterat Benjamin Stuckrad-Barre und Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsam? Sie alle stammen aus einem evangelischen Pfarrhaus. Einst Pflanzstätte der protestantischen Geisteseliten, droht das Pfarrhaus nun mit dem entkräfteten Christentum aus der dörflichen Idylle zu entschwinden wie dunnemals die alte Schmiede oder der Gasthof „Zu den drei Linden“.

Christine Eichel schreibt indes keine reine Chronik des Niedergangs, sondern eine facettenreiche Hommage an die eigene Kindheit – auch die ehemalige Focus- und Cicero-Journalistin ist in einem Pfarrhaus aufgewachsen. „Als Tochter eines Landpfarrers erlebte ich, wie fröhliches Gottvertrauen und eisernes Pflichtbewußtsein Hand in Hand gingen. Möglicherweise bin ich auch Zeugin einer untergehenden Welt“, resümiert Eichel ein Stück Familiengeschichte.

Die Co-Autorin von Eva Hermans „Das Eva-Prinzip“ (2006) erlebte als 1959 geborene Pastorentochter die protestantische Pflichtethik hautnah, die das Familienleben dem Gemeindeleben stets unterordnete. Das Pfarrhaus funktionierte wie ein Familienunternehmen, geführt von einem auch nachts stets erreichbaren Hausherrn. Für die praktische Hausarbeit war die Pastorenfrau zuständig: „Wir Kinder spielten bei den Gemeindefesten Klavier und Geige, bastelten für Basare, öffneten die Haustür jedem, der klingelte. Wirklich jedem.“

Mit einem großen Schuß Empathie spürt die vielschreibende Romanautorin der Frage nach, wie das Pfarrhaus nach der Reformation zur Keimzelle bildungsbürgerlicher Tugenden avancieren konnte. Am Anfang stand mit der Heirat zwischen dem Augustinermönch Martin Luther und der entlaufenen Nonne Katharina von Bora ein handfester Skandal. Luthers häusliche Lebenswelt mit Wein, Weib und Gesang, seine Tischreden sowie das Prinzip der offenen Tür wurden bald zum Abziehbild für alle Nachfolger. Im 18. Jahrhundert, in dem mehr als ein Drittel aller Akademiker Theologen waren, vollzog sich der Aufstieg des Pastors vom hungerleidenden Landwirt zum Bildungsbürger.

Am Mythos des deutschen Pfarrhauses haben viele mitgearbeitet: allen voran die Söhne, die aus dem Schatten des Übervaters heraustreten mußten. Jean Paul besang etwa die altsprachliche Erziehung, den Wortgeist; die „Beredsamkeit, die prosaische Wand- und Türnachbarin der Poesie, wohnte im Predigerherzen meines Vaters“. Gottfried Benn charakterisierte seinen eher amusischen Vater dagegen als „Felsbezwinger, transzendent und tierfremd“, während Friedrich Nietzsche die Bibliotheken seines Talar tragenden Großvaters durchstreift hatte, bevor er „Gott ist tot“ verkündete. Das Pfarrhaus war spätestens seit Johann Heinrich Voß „Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen“ (1795) literarisches Sujet, gar Schullektüre.

Geschickt verwebt Eichel eigene Erinnerungen mit denen anderer Pfarrers-kinder, läßt die Gauck-Kinder ebenso zu Wort kommen wie den Schauspieler Peter Lohmeyer und illustriert deren Abnabelungsschwierigkeiten. Das hehre Ideal des Hortes von Geist und Macht erhält Risse, wo Kinder Ausgrenzung erlebten, die sie freilich als Literaten (Gotthold Ephraim Lessing), Archäologen (Heinrich Schliemann), Zoologen (Alfred Brehm), Historiker (Theodor Mommsen) oder Mathematiker (Leonhard Euler) überkompensierten. „Pfarrers Kinder, Müllers Vieh, geraten selten oder nie.“ Dieser Spottvers geht eben weiter: „Wenn dann doch mal eins gerät, ist’s von erlesener Qualität.“

Das Pfarrhaus verödet vor allen Dingen von innen

Eichel, die als Regisseurin für das Fernsehen reüssierte, nähert sich dem Pfarrhaus aus der Totale. Dabei übersieht sie nicht, daß das 20. Jahrhundert die Fundamente dieses backsteinernen Musentempels unterminiert hat: Die Verweltlichung beginnt in der Dienstwohnung. So waren zum Beispiel laut einer Umfrage in der Oldenburgischen Kirche von 2011 nur noch 16 Prozent der Pfarrer mit der Residenzpflicht in der „gläsernen“ Pastorei zufrieden. Stattdessen sehnen sich die gut besoldeten Kirchenbeamten wie alle besser betuchten „Schäfchen“ nach Eigenheimen.

Das Pfarrhaus verödet vor allen Dingen von innen: „Die Pfarrfrau alten Schlags gibt es zwar noch, doch immer weniger Frauen wollen sich dem Rhythmus des Mannes unterordnen“, so Eichels Beobachtung. In ihrer Begeisterung für die Frau auf der Kanzel verschweigt sie, daß Frauenordination und Pastoralfeminismus auch Schattenseiten haben: sinkende Kinderzahlen, steigende Scheidungsraten. Die Kritik an der Verflachung der Kirche mit ihrem reduktionistischen „Kuschelgott“ (Friedrich Wilhelm Graf) tut sie als „Ressentiment“ ab. Hauptsache „weniger patriarchal als früher, weniger autoritär“. Kein Wort verliert die Pastorentochter zudem über den Kirchenkampf um den Einzug homosexueller Pfarrer in die alten Gemäuer.

Eichel hat recht, wenn sie mit dem Pfarrerssohn Klaus Harpprecht die „kulturelle Schwindsucht“ einer zunehmend „entchristlichten Gesellschaft“ beklagt. In Mitteldeutschland hat der Realsozialismus eine Glaubenswüste mit einer nur noch zu einem Viertel konfessionell gebundenen Bevölkerung hinterlassen. Die meisten Pfarrhäuser werden verkauft, Volkskirche ist hier eine Schimäre. Unrecht hat sie, wenn sie den Autoritätsverlust des Pfarrers bejubelt, der heute mehr als „ethische Instanz“ wahrgenommen wird. Die Käßmannkirche leidet schließlich gerade darunter, daß zuviel politisiert und zuwenig evangelisiert wird, insbesondere daß die Bergpredigt nur noch mit der taz-Brille gelesen wird.

Wo Eichel schließlich Angela Merkels „eher technokratische Sprache des argumentativen Christentums“ und Joachim Gaucks „emotionale Verkündigung“ als „Renaissance des Predigertons“ deutet, verrennt sie sich völlig. Die große Staatsnähe, das Mit-den-Wölfen-Heulen ist seit jeher keine Tugend, sondern eine Schwäche des Protestantismus. Schade, denn die Stippvisite im deutschen Pfarrhaus – eigentlich geht es nur um das protestantische Pfarrhaus – ist der belesenen femme de lettre ansonsten durchaus gelungen.

Christine Eichel: Das deutsche Pfarrhaus. Hort des Geistes und der Macht. Quadriga Verlag, Berlin 2012, gebunden, 367 Seiten, 22,99 Euro

Evangelisches Pfarrhaus neben der Kirche in Bremen-Hemelingen: Das hehre Ideal des Hortes von Geist und Macht hat Risse bekommen

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