© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/13 / 08. Februar 2013

Im Würgegriff der Angst
Atomkatastrophe von Fukushima: Hunderttausende ohne Rückkehrhoffnung / Kein Vertrauen in Politiker und Wissenschaftler
Christoph Keller

Für die mediale Weltöffentlichkeit war die Reaktorkatastrophe von Fukushima, ausgelöst am 11. März 2011 durch das Tohoku-Erdbeben und den folgenden Tsunami, vier Wochen von Interesse. Danach war das Schicksal der 210.000 dauerhaft Evakuierten, die weiter in Notunterkünften leben, außerhalb Japans keine eine Schlagzeile mehr wert – trotz fast 16.000 Toten (dreimal soviel wie das Erdbeben von Kobe 1995) und 2.700 Vermißten. Inmitten dieser allgemeinen Gleichgültigkeit erstaunt daher eine Reportage, die im Januar im britischen Magazin Nature erschien.

Die wichtigste Botschaft von Geoff Brumfiels Bericht über die Belastungen der Betroffenen und das regionale Krisenmanagement lautet: Mit der Bewältigung der sozialpsychologischen Folgeschäden tut sich die japanische Regierung schwer. In der fernöstlichen Kultur hätten Gesundheitspolitiker ohnehin wenig Erfahrungen im Umgang mit seelischen Leiden, da psychische Probleme dort nicht als Krankheit begriffen würden. Erst in den vergangenen zehn Jahren lernten Allgemeinmediziner den Umgang mit Depressionen. Die Regierung startete Aufklärungskampagnen zur Suizid-Prävention. Gerade in der abseits gelegenen Präfektur Fukushima, durch Landwirtschaft und Fischerei geprägt, komme zudem erschwerend hinzu, daß die konservative Bevölkerung geübt darin sei, Alarmsignale der Psyche zu ignorieren und zu verdrängen.

Heimatverlust und große Ängste vor Verstrahlung

Für den von Brumfiel befragten Neurologen Hirooki Yabe (Fukushima Medical University/FMU) sind seine aus den Zonen radioaktiven Niederschlags evakuierten Landsleute sogar härter getroffen als die überlebenden Tsunami-Opfer. Diese durften, sofern ihre Küstenwohnorte weit genug von der Sperrzone um die zerstörten Reaktoren entfernt sind, mit dem Wiederaufbau beginnen und konnten an ihr Leben im alten Rahmen anknüpfen. Den meisten der zunächst 265.000 Richtung Fukushima-Stadt Evakuierten aus dem Fall out-Areal im 20-Kilometer-Radius des havarierten AKW Fukushima I blieb ein vergleichbar „positives Lebensgefühl“ indes versagt. Doch nicht primär aus dem Heimatverlust, dem Leben in engen provisorischen Behausungen, der Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst seiner Patienten resultiert Yabes Hauptsorge. Es ist der „Angstfaktor“, den er und seine Kollegen nicht in den Griff bekämen. Nach einer Umfrage unter jenen 210.000 Evakuierten, für die es keine Rückkehrhoffnung gebe, von denen 91.000 antworteten, zeigten 15 Prozent der Erwachsenen extreme Streßsymptome und traumatische Syndrome. Fast alle plage die Angst, radioaktiv verseucht worden zu sein und früh an Krebs sterben zu müssen.

Seit Mai 2011 versuchten die Mediziner und Psychologen der FMU mit Statistiken über die Strahlenbelastung zu beruhigen. Messungen unter den Evakuierten hätten niedrige Werte, im Maximum 25 Millisievert (mSv) ergeben. Ein Krebsrisiko, das für die Opfer der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki ab 100 mSv bestand und sich für Zehntausende realisierte, sei faktisch ausgeschlossen, wie auch der US-Statistiker Dale Preston bestätigte.

Trotzdem, so die einhellige Überzeugung japanischer und US-Mediziner, stehe man vor langfristigen Herausforderungen. Denn auch bei nicht unmittelbar Betroffenen grassiere eine mit Statistiken nicht zu widerlegende „Radiophobie“. Nach Erhebungen des Washingtoner Pew Research Center sind 76 Prozent der Japaner fest davon überzeugt, daß Nahrungsmittel aus der Region Fukushima ihre Gesundheit gefährden, obwohl Politiker und Wissenschaftler unentwegt das Gegenteil versichern.

Vordringlichste Aufgabe der Gesundheitsbehörden müsse die bessere psychologische Betreuung der Evakuierten sein. Bisher hat die Regierung dafür nur umgerechnet 34 Millionen Dollar bewilligt, kurzfristig sei aber mindestens das Doppelte erforderlich. Aufgrund solcher finanziellen Engpässe, so klagt Yabes Kollege, der Epidemiologe Seiji Yasumura, hätten erst mit 100 der 210.000 Flüchtlinge intensive therapeutische Gespräche geführt werden können.

Geoff Brumfiel: Fukushima – Fallout of fear, in „Nature“, Volume 493, Number 7432 (2013)

www.nature.com/news/fukushima-fallout-of-fear-1.12194

Deutsches Fukushima-Informationsportal:  www.fukushima.grs.de

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