© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/13 / 22. Februar 2013

„Deutschlands Ehre wiederherstellen“
Die Geschwister Scholl sind heute Heilige der „Zivilgesellschaft“. Doch die Wahrheit ist komplexer. Musterdemokraten waren sie keineswegs, Sophie spielte nur eine Nebenrolle, und die „Weiße Rose“ hatte auch nationale Motive, wie der Historiker Frank McDonough zurechtrückt.
Moritz Schwarz

Herr Professor McDonough, mit Ihrem Buch haben Sie Sophie Scholl im englischen Sprachraum bekannt gemacht.

McDonough: Es hat mich immer erstaunt, daß alle Welt Anne Frank kennt, aber kaum einer Sophie Scholl. So hat mein Buch viele Briten völlig überrascht, denn wir glauben ja, daß jeder Deutsche ein Nazi war. Bis zu Tom Cruise’ Stauffenberg-Film „Operation Walküre“, der mir viel Rückenwind verschafft hat, wußte kaum jemand bei uns, daß es überhaupt einen deutschen Widerstand gegeben hat. Der Erfolg meines Buches führte wiederum dazu, daß das englische Fernsehen erstmals den deutschen Spielfilm „Sophie Scholl. Die letzten Tage“ ins Programm nahm. Heute interessieren sich mehr und mehr Briten dafür und fragen: „Wie viele Deutsche waren gegen Hitler?“ Sage ich rund ein Prozent, klingt das mickrig. Sage ich aber etwa 700.000, dann sind sie meist beeindruckt.

Inzwischen gelten Sie als Deutschlandexperte unter den britischen Historikern.

McDonough: Als Kind ging mein Vater mit meinem Bruder und mir ins Rathaus von Liverpool und zeigte uns die Gedenktafel für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Er deutete auf den Namen seines Großonkels, der 1916 im Kampf gegen die Deutschen gefallen war. Ich war ergriffen und fragte: „Warum haben wir gegen die Deutschen gekämpft?“ Von da an faszinierte mich Deutschland und ich wurde zu einem Germanophilen: Deutschland mit seiner großen Kultur und seiner imponierenden Tradition des Geistes. Dann dieser tiefe Fall unter die Diktatur. Und natürlich stelle ich mir die Frage, wie ich reagiert hätte? Eine faszinierende und ebenso bedrohliche Frage.

Wie hätten Sie reagiert?

McDonough: Ich bin Universitätsprofessor, wie also hätte ich mich damals als Professor verhalten? Hätte ich für ein Wort des Widerstands alles riskiert? Ich fürchte, ich hätte mich gefügt, wie die meisten. Auch wenn ich lieber Widerständler gewesen wäre. Darum aber interessieren mich die Deutschen, die Widerstand geleistet haben, so sehr.

Ihr Buch stellt nicht nur dar, sondern hat auch einen Beitrag zur „Weißen Rose“-Forschung geleistet. Etwa weisen Sie nach, daß die Gestapo die Geschwister Scholl, entgegen früheren Annahmen, nicht gefoltert hat.

McDonough: Ja, das ist eine Legende, die lange durch die Literatur geisterte. Tatsächlich aber hat die Gestapo die Scholls recht anständig behandelt, etwa so wie jede Polizei mit Rechtsbrechern umgeht. Offenbar sahen sie in ihnen an sich respektable Mittelklasse-Bürger. Eben keine Kommunisten, sondern Volksgenossen, die von einer feindlichen Geisteshaltung verführt worden waren.

Der Sophie Scholl verhörende Gestapo-Beamte versuchte sogar, ihr eine goldene Brücke zu bauen.

McDonough: Ja, aber darauf ging sie nicht ein. Dabei hätte sie das vor dem Schafott retten können, aber sie war nicht bereit, Kompromisse zu machen. Im Gegenteil, sie hatte sogar den Mut, Hitlers Chefrichter, der den Schauprozeß persönlich führte, herauszufordern. Ihre Tapferkeit war wirklich bemerkenswert!

Dabei war Sophie Scholl zunächst vom Nationalsozialismus begeistert.

McDonough: Absolut, ihr Bruder Hans war sogar HJ-Führer, er kommandierte 150 Hitlerjungen. Beide waren als Heranwachsende Feuer und Flamme für die Hitlerjugend, begeisterten sich für die Idee der Volksgemeinschaft und stritten heftig mit ihrem Vater, einem überzeugten Nazi-Gegner. In Hitler sah die Jugend damals nicht das Böse, im Gegenteil. Ich erkläre das hier in England gerne so: Den Nationalsozialismus muß man sich als eine Art Beatlemania vorstellen: Hitler erschien als toller Typ, eine Art Popstar. Dazu kam der jugendtypische Gruppendruck. – Ganz ehrlich, als ich jung war, lief ich auch nur deshalb mit langen Haaren herum, weil das alle taten.

Die Kinofilme über die „Weiße Rose“ blenden die NS-Begeisterung der Scholls aus.

McDonough: Es gab sie aber. Allerdings, je älter sie wurden, desto mehr gerieten sie in Widerspruch zur Hitlerjugend, die kein Hort des Intellektualismus und der Eigenständigkeit war.

In Deutschland wird die „Weiße Rose“ gemeinhin als eine Art linker Widerstand dargestellt. Trifft das zu?

McDonough: Die Ursache für den Widerstand der Scholls war eigentlich nicht politischer, sondern persönlicher Natur. Er entsprang einer persönlichen Entfremdung vom Nationalsozialismus. Was Hans Scholl zunächst an den Nazis nicht paßte, war, daß sie sich in sein „Freizeitverhalten“ einmischten. Daß sie ihm diesbezüglich Vorschriften machten, von ihm verlangten, mit seiner bündischen Jugendgruppe „dj.1.11“ zu brechen. Das Wort, das später die „Weiße Rose“ am häufigsten gebrauchte, war „Freiheit!“ Freiheit gegenüber einem politischen und gesellschaftlichen System, das von ihnen totale Einordnung verlangte und ihnen verbot, das zu tun, zu lesen und zu denken, was sie wollten. Wir wissen zum Beispiel nicht, was der frühe Hans Scholl über den Antisemitismus dachte. Später verurteilte er ihn, aber zu Beginn? Das war offenbar nicht sein Problem.

Die Geschwister Scholl werden heute als „vorbildliche Demokraten“ gepriesen.

McDonough: Zu den Idealen der Hitlerjugend, die Hans zunächst ansprachen, gehörten auch Disziplin und Führerschaft. Und obwohl der Kern der Gruppe ihre Aktionen diskutierte, verhielt er sich im Grunde auch später in der „Weißen Rose“ ähnlich. Die Familien der „Weiße Rose“-Mitglieder Alexander Schmorell und Christoph Probst etwa waren gegen Hans Scholl eingestellt, weil ihnen sein Charakter als rücksichtslos erschien. Und wenn Sie bedenken, daß er etwa das sechste Flugblatt der „Weißen Rose“ verbreitete, obwohl dessen Autor, Professor Kurt Huber, dies zurückgezogen hatte, weil er die von Hans Scholl gemachten inhaltlichen Änderungen nicht mittragen konnte, dann zeigt dies in der Tat eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen, sich über deren Meinung hinwegzusetzen.

Klingt nicht gerade nach einem „vorbildlichen Demokraten“.

McDonough: Die Rückkehr zur Demokratie war das, was sie in ihren Flugblättern forderten. Aber wie so oft, sind politisches Denken und persönliches Handeln zwei Paar Stiefel.

Der Historiker Sönke Zankel meint: „Sie dachten elitär (...) benannten sich nach verbannten Adeligen während der Französischen Revolution. Der Name ‘Weiße Rose’ stand insofern nicht für Demokratie.“

McDonough: Einmal traf sich Hans Scholl mit Falk Harnack, der zum Umfeld der kommunistischen Widerstandszelle „Rote Kapelle“ gehörte. Harnack fragte: „Was ist eure Methode?“ Scholl: „Flugblätter per Post verschicken.“ „Und an wen?” „An Personen aus dem Telefonbuch: Anwälte, Doktoren, Professoren.“ Harnack verblüfft: „Aber eben das sind doch die Nazis! Genau diese Leute leben gut mit dem System!“ Diese Episode zeigt erstens, daß die „Weiße Rose“ keine linke, sondern eine bürgerlich orientierte Widerstandsgruppe war. Sie zeigt zweitens ihre erstaunliche Naivität. Denn tatsächlich lieferten 87 Prozent der Empfänger – aus Angst oder Empörung – die Flugblätter bei der Gestapo ab. Und sie zeigt drittens, daß sie ein gewisses bürgerliches Elitedenken pflegte. Es fiel ihnen nicht ein, sich an kleine Leute und Arbeiter zu wenden, sondern an die Bürgerschicht.

Neben dem Kern der Gruppe gab es die Helfer, Schüler und Studenten, die die Flugblätter verteilten. Einige von ihnen berichten, daß von Hans Scholl erwartet wurde, die Aktionen ohne Widerrede oder Diskussion auszuführen, obwohl sich die Helfer damit in Lebensgefahr begaben.

McDonough: Es stimmt, und schlimmer noch: Als Hans und Sophie planten, am 18. Februar 1943 heimlich Flugblätter in der Universität München zu verteilen, widersprachen die anderen Mitglieder der Kerngruppe, weil die Gefahr zu groß sei. Aber Hans und Sophie setzten sich darüber hinweg. Mit dem bekannten Ergebnis, daß die Gruppe aufflog und schließlich alle, die Scholls, Willi Graf, Alexander Schmorell, Christoph Probst und Kurt Huber, geköpft wurden.

Christoph Probst hatte Frau und Kinder.

McDonough: In der Tat. Letztlich war das Verhalten der Scholls zwar äußerst mutig, aber auch ziemlich rücksichtslos.

Hans Scholl rief zum Widerstand gegen ein System auf, das Befehl und Gehorsam verlangte und verlangte selbst Gehorsam? Er forderte in den Flugblättern Demokratie, ohne sich selbst demokratisch zu verhalten?

McDonough: Ein Widerspruch, ja.

Vor allem ein Widerspruch zur öffentlichen, politischen Deutung Hans Scholls heute.

McDonough: Hans Scholl war ein Anti-Nazi, aber es stimmt, seine Motive waren keineswegs rein, sondern auch hedonistisch geprägt. Sein Verhalten war elitär und sein Charakter neigte dazu, von einem Extrem ins andere zu verfallen. Freiheit im Extrem ist ja auch eine Form der Verantwortungslosigkeit.

Sie sagen, er sei homosexuell gewesen. Spielte das eine Rolle?

McDonough: Er war vermutlich homo- oder bisexuell veranlagt. Offenbar hatte er 1934 bis 1935 eine homosexuelle Beziehung innerhalb der Hitlerjugend. Außerdem war er später eng mit einem rund dreißig Jahre älteren Buchhändler befreundet, der laut Gestapo nachweislich homosexuell war. Sicher hat diese Veranlagung mit dazu beigetragen, ihn in Opposition zu den Nazis zu bringen.

Was blieb von Hans Scholls Begeisterung für die nationale Idee aus der Zeit der HJ?

McDonough: Auf jeden Fall hatte die „Weiße Rose“ eine Vision von einem deutschen Patriotismus. Konkret politisch gab es wohl unterschiedliche Vorstellungen. Während sich Hans Scholl für die Zukunft eher ein vereinigtes Europa vorstellte, war der nationale Kurt Huber eher Anhänger eines deutschen Nationalstaats. Sie alle aber einte, daß sie ihr altes Vaterland wiederherstellen wollten, das Deutschland der Freiheit, des Rechts und der Ehre. Sie sahen sich in seiner Tradition und sie appellierten an das deutsche Volk als ihr Volk. Im Grunde war das ihre zentrale Vorstellung: Deutschland zu retten und ihm seine Würde und sein Selbstbewußtsein zurückzugeben. Und sie ahnten, wenn Deutschland unter den Nazis den Krieg verliert, würde es zum Paria werden: Darum ging es bei der „Weißen Rose“, davor wollten sie ihr Volk bewahren.

Mit der „Weißen Rose“ verbindet man vor allem Sophie Scholl. Die Kinofilme stellen sie in den Mittelpunkt und auch Ihr Buch trägt ihren Namen. Warum reden wir dann die ganze Zeit über Hans?

McDonough: Eine sehr gute Frage, denn tatsächlich war Hans der dominierende Charakter. Während ich an meinem Buch über Sophie schrieb, fürchtete ich sogar zeitweilig, er würde es übernehmen! Tatsächlich war Sophie keine führende Figur – tatsächlich folgte sie eher Hans und den anderen.

Warum reden wir dennoch meist von ihr?

McDonough: Weil Hans Scholl eine Art Dorian Gray war, zu komplex. Helden müssen unkomplizierte Figuren sein, so wie Sophie, die Jeanne d’Arc der „Weißen Rose“.

Dann sind wir nicht anders als die, die damals die Augen verschlossen: Wir wollen das Wunschbild sehen, nicht die Wahrheit.

McDonough: Ich fürchte ja, und ich kann nur hoffen, daß uns diese Erkenntnis ein wenig demütiger macht.

 

Prof. Dr. Frank McDonough, der Deutschlandexperte gilt in seiner Heimat als gefragter Interviewpartner und gern geladener Gast im Radio und Fernsehen; auch in deutschen TV-Dokumentationen war er schon zu sehen. Geboren 1957 in Liverpool, schrieb der Historiker an der John-Moores-Universität etliche Werke zur deutschen Zeitgeschichte. Mit seinen Büchern „Opposition and Resistance in Nazi Germany“ (2001) und „Sophie Scholl. The Real Story of the Woman Who Defied Hitler“ (2009), das in England mittlerweile als Standardwerk gilt, trug er maßgeblich dazu bei, in den letzten Jahren die Existenz des deutschen Widerstands gegen Hitler in Großbritannien überhaupt bekannt zu machen. Im Juni 1942 gründete sich in München aus dem Freundeskreis der aus Ulm stammenden Geschwister Scholl die studentische Widerstandszelle „Weiße Rose“ (siehe Seite 19). Am 22. Februar 1943 wurden diese und Christoph Probst hingerichtet, am 13. Juli folgten Kurt Huber und Alexander Schmorell, am 12. Oktober Willi Graf.

Foto: Hans und Sophie Scholl verteilen am 18. Februar 1943 Flugblätter an der Universität München, kurz bevor sie verhaftet werden (Szene aus dem Stück „Die Weiße Rose“ des Landestheaters Altenburg): „Auf jeden Fall hatte sie eine Vision eines deutschen Patriotismus. Darum ging es bei der ‘Weißen Rose’ (...) Deutschland zu retten.“

 

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